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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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12 18001810.

eins: die starke Betonung des Dichterberufes, der Spott überdenPhilister", der sich freilich bei Tieck und den Schlegels mehrgegen den schreibenden, bei Brentano und Hoffmann mehr gegenden lesenden Philister richtet. Dieser äußere Zug ist von eineminneren bedingt: die jüngere wie die ältere Romantik setzt dasGlück des Künstlers nicht sowohl in die Fähigkeit, hohe Werke zuschaffen, als vielmehr in das Hochgefühl des dichterischen Rausches.Das Kunstwerk ist für sie uicht Zweck, sondern Mittel, Mittelzur Erreichung göttlicher Momente, in denen der Mensch sich überdie beengende Sphäre der Alltäglichkeit erhebt. Wozu ist deunalles Schöne da, Sonnenuntergänge und Mondnacht, Sterne undBlumen und Klänge, große Gedanken nnd herrliche Erlebnisse,wenn nicht Seelen da sind, die all dies Schöne in seiner ganzenPracht fühlen, erleben können? Das aber kann nur der Künstlerganz, und seinetwegen ist eigentlich die Welt da mit ihrer Pracht.Die künstlerische Arbeit ist nnr das Mittel, sich zu diesem Voll-genuß der Existenz zu steigern. Ihre Vollendung ist daher Neben-sache; ja das Fragment hat einen geheimen Reiz mehr, weil eszum gedanklichen Weiterführen auffordert. Die poetische Stimmungist die Hauptsache zunächst die des Dichters, dann die des Lesers,wenn er dem voranschreitenden Dichter zu folgen weiß.

Niemand wird verkennen, wie vielfältig diese Kunstanschanungder Romantik sich mit modernen Theorien berührt. Auch unsereNeuesten lehren vielfach, nicht als abgeschlossenes Kunstwerk habedie Dichtung Bedeutung, sondern nur als Zeugnis von einer Per-sönlichkeit einer Natnr, die tiefer und wahrer als anderedie Wirklichkeit zu empfinden und zu erleben verstehe. Auch heutsteht das Fragment in Ehren, mehr als dem Ernste künstlerischerArbeit gut thut; und Aphorismen sind für Friedrich Nietzsche wiefür Schlegel und Novalis die natürliche Form der theoretischenÄußerung.

In der That dürfen die Modernen vielfach die Nomantikerals Bahnbrecher ansehen. Soweit die neuere Entwickelung derLitteratur einen stetigen Fortschritt des Individualismus bedeutet,bewegt sie sich auf Bahnen, die die Romantik im Gegensatz zu denKlassikern eingeschlagen hat.

Vor hundert Jahren ward die Fahne aufgesteckt, die jetzt so sieg-reich über allen künstlerischen Heeren weht. Wie weit inSturmund Drang " dieOriginalgenies" und der junge Goethe selbst,