24 1800—1810.
die Dinge zu deutlich ins Auge faßten. Novalis ' mittelalterlicheReichsstadt liegt in fernen Nebeln; in der Armins kann manwohnen. Tieck singt in unbestimmten Tönen von der Waldeinsam-keit; Bettina wirft sich vor unseren Augen auf das Gras und be-schreibt den Käfer, der über ihre Hand kriecht.
Und dennoch ist dieser unendliche Fortschritt, der erst wiedereine gesunde Widerspiegelung des wirklichen Lebens ermöglichte,eine folgerechte Weiterentwickelung aus der Lehre der älteren Ro-mantik. Aus ihrem Hinweis auf die Originalität, auf den „eigenenMittelpunkt" erwuchs ja auch ihnen der Anspruch, die vorhandeneWelt zu „bearbeiten"; nur verachteten sie dabei als gute Schüler derspekulativen Philosophie die Sinne. Nun ruft Rahel: „O gesegnet,tausendmal gesegnet, liebe Sinne!" gerade wie der junge Goethe,Herders Schüler, gerufen hatte: „Gott erhalt ' unsre Sinnen und be-wahr' uns vor einer Theorie der Sinnlichkeit". Aus Goethe hatte«Schlegel uud Novalis hingewiesen: von ihm zu lernen versuchen erstRahel und Bettina. Er hatte es in Rom erkannt, daß nichts schwerersei, als die Dinge zu sehen, wie sie sind; durch Übung seiner Sinnewollte er das erlernen, wollte erzwingen, daß nichts ihm mehr Tradi-tion und Name sei, alles anschauende Keuntnis. Auch die jüngerenRomantiker sehen ein, daß zur Aneignung der Welt die Sinne mehrtaugen als geistreiche Paradoxien; daß eine selbständige Beobach-tung mehr erobert, als ein mystisches Vertrauen auf den geheimenZusammenhang der Dinge. Ist es ein Wunder, daß der Gebrauchder Sinne sie wie eine neue, wunderbare Entdeckung entzückt? daßsie sich in virtuoser Beschreibung von Dingen und Geräuschen undDüften nicht genug thuu können? Tieck hatte versucht, durch einepoetische Prosa die Stimmung nachzubilden, die bestimmte Instru-mente erwecken, und hatte so das Fagott oder das Waldhorn sprechenlassen; weun Brentano das nachahmt, giebt er nicht mehr dieStimmung wieder, sondern den Eigenklang der Instrumente.
Nicht alle haben litterarische Denkmale von dauerndem Werthinterlassen. Rahel (1771—1833) ist nur die Prophetin derjüngeren Romantik; ihre Bedeutnng liegt in der ganz einzigenSelbständigkeit, mit der sie jedem Phänomen gegenübertritt. Esgiebt für sie gar keine Tradition; sie sieht und hört alles in diesemAugenblick zum erstenmal und deshalb auch mit einer Kraft desEindrucks, die anderen versagt ist. Wir haben alle Goethes Ge-dicht an Friederiken gelesen, mit dem er ihr ein seidenes Band