Jüngere Romantik,
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übersandte, und wir haben nns alle der lieblichen Verse gefreut.Rahel aber, da sie es liest, empfindet es, als habe Goethe es ihrgesandt; sie fühlt sich ganz in die Situation hinein. „Nein, so mußman nicht fchreiben! er nicht!"; sie fühlt, als sei es eben geschehen,welche Verantwortung der Dichter mit diesen Worten auf sichnimmt, was Friederike empfinden muß, wenn das Band, das sieverbindet, doch nur ein leichtes Rosenband war — und sie mußlaut aufschreien beim Lesen. Nur im Gespräch oder in Briefengelingt ihr unter dem Druck eines erregenden Moments eine Im-provisation; vorbedachte Schriften abzufassen ist ihr versagt. —Auch Josef Görres (1776—1848), der Begründer der ultramon-tanen Partei in Deutschland , ist nur Redner, Improvisator, min-destens in seinen besten Büchern. Eine gewaltige Kraft der An-schauung lebt in ihm. Jede Metapher wird zum angeschautenBild. „Das Wetter ändert sich," sagt ein anderer Redner imGleichnis; ihm lebt das sofort: „Die Pfauenweibchen schreien jämmer-lich, die Schwalben streichen an der Erde hin, der Laubfrosch steigtan der Leiter nieder, die Funken hängen sich au den berußtenTöpfen au — es will ander Wetter werden!" — Anschauung istauch das große Geheimnis der Kunst, mit der E. Th. A. Hoff-mann (1776—1822) die Spukgestalten der unsichtbaren und dienoch unheimlicheren Figuren der wirklichen Welt vor uns aufsteigenläßt; fichtbar, greisbar führen sie ihren wilden Gespcnstertanz auf,symbolische Geberden mit realistischen Bewegungen untermischend.Hoffmann ist beinahe so wenig Stilist wie Rahel; ja weun ihr oftblitzeude Sätze gelingen, schleppen sich bei ihm auch die geistreichstenAussprüche in ungelenken Perioden hin. Einen Satz ganz brutalin der Mitte entzwei zu brechen, um etwas einzuschieben, machtihm nicht die geringste Sorge; für Wohlklang der Rede hat derbegabte Musiker kein Ohr, für Lautsymbolik trotz aller Freudean Beziehungen zwischen Form nnd Inhalt nicht das geringsteTalent. Und diesem Schriftsteller, dem die Hilfsmittel der Spracheerstaunlich wenig zu Gebote stehen, gelingt es, uns Gestalten undEreignisse sichtbar vor Augen zu zaubern, die alle Virtuositätanderer Meister iu Spuk- und Wundergeschichten uus nie wahr-scheinlich machen würde. Wir sehen die grausigsten Verwandlungen,Doppelgänger stieren sich an, ein Student verliebt sich in einePuppe mit eingesetzten Glasaugen, und ein Räuber sucht ein Kindam Feuer zu braten; der Kater Murr und der Huud Bcrganza