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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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1800-1810.

sprechen und denken; diesem Menschen geht seine Identität ver-loren, jenem wird von aller Welt zugerechnet, was irgend in seinerNähe geschieht. Tiefsinn und Wahnsinn reichen sich, kaum unter-scheidbar, die Hand. Krankhafte Seelenzustände sehen wir mit er-schütternder Deutlichkeit vor Augen und fühlen fast die Leidenjenes furchtbaren Goldschmiedes Cardillac mit, der seine Kunstwerkenicht lassen kann nnd den morden mnß, der sie ihm abkauft. Da-zwischen alle unheimlichen Geräusche, hohles Klopfen an den Mauern,geisterhaftes Orgelspiel, betäubende Gerüche von wundersamenBlumen. Und neben dem allen, wie bei Rahel Trivialität nebenOffenbarung, fest und einfach gezeichnete historische Bilder, MarinoFaliero und sein Ende, ein altdeutscher Zunftschmaus; oder nochlieber beides vermischt, Magier über den Gendarmenmarkt inBerlin schreitend, ein verwunschenes Haus in der Hauptstraße derResidenz nebeu einer Konditorei. Und wir glauben ihm alles,und unsere skeptischen Nachbarn, die Franzosen , lesen oder lasendoch lange von allen deutschen Schriftstellern nnr ihn, und OttoLudwig so gut wie Ernst v. Wildenbruch, Richard Wagner so gutwie Jacques Offenbach hat es gereizt, seine Gestalten in das grelleLicht der Theaterlampen zn rücken. Wie ist das alles möglich?Es ist möglich, weil Hoffmann seine große Forderung erfüllt. Ersieht wirklich die Gestalten und die Diuge vor sich, so greifbar,daß er sie uus beschreiben kann wie den Blumentopf am Fenster;so bestimmt sieht er sie, daß er sie sprechen hört mit eigentüm-lichem Tonsall und wieder von uns verlangen kann, aus der Rede-weise einer Figur uns ein deutliches Bild ihrer ganzen Erscheinungzn machen. Und noch mehr. All das ist bei ihm keineswegsmüßige Erfindung, willkürlicher Spuk es wächst hervor ausdem Boden einer eigenartigen Weltanschauung. Hoffmann meinternstlich, diese Welt des Grauens und der Wunder sei so wirklichwie die triviale Alltagswelt; oder, besser gesagt, er meint, diese seiso wenig wirklich wie jene, sei so gnt ein Reich des Spuks undTraums wie die Welt, in der seinSandmann " und die fürchter-lichenElixire des Teufels" spielen. Der Staat ist ihm nur einlächerliches automatisches Spielwerk, in dem täglich znr selben Zeitderselbe Mann zu demselben Fenster heraussieht und sich dannwieder umdreht; die Gesellschaft ist ihm nur ein Maskenfest, in demTiger und Hund nnd Katze und andere wilde Bestien zahme Gästespielen. Aus der Tiefe dieser Verachtung der Wirklichkeit quillt