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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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Bettina.

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überhaupt die den Frauen bestimmte Litteraturgattung, uud was sieschrieben, sei immer Brief: immer an eine bestimmte wirklicheAdresse gerichtet.

Für Bettinen aber ergab sich diese Form noch ganz besondersaus ihrer Eigenart. Nur der Brief konnte ihr genügen, weil nurer ihr Gelegenheit gab, fortwährend von neuem zu erzählen. DieRomane und Novellen der älteren Romantiker sind oft verkleideteEssays, die der jüngeren sind oft verkleidete Briefe: Bettina giebtmutig die Verkleidung auf und schreibt wirklich nur dahinauellendeImprovisationen für vertraute Freunde, ohne sie erst wie Brentano alsMärchen" oderErzählungen" zu drapieren.

Wirklich einzig sind jene drei Bücher Bettinens. In stetemUmgang mit den dichterisch angeregtesten Geistern ihrer Zeit hatBettina sich zur Erfüllung der Forderung herangebildet, die K. PH.Moritz nach Goethes Italienischer Reise aus Goethes Ideen und mitseinem Beifall formulierte:Der Horizont der thätigen Kraftmuß bei dem bildenden Genie fo weit wie die Natur selber sein,das heißt: die Organisation muß so fein gewebt sein und so unend-lich viele Berührungspunkte der allumströmeuden Natur darbieten,daß gleichsam die äußersten Enden von allen Verhältnissen der NaturRaum genug haben." Ihr Genie bietet der allumstrvmenden Naturüberall Berührungspunkte. Und darauf beruht ihre eigentümliche Kunst:es ist die Virtuosität im Erleben. Wir haben begabte Dichter, dienie etwas erlebt haben; so Platen. Das lag an ihnen, nicht anden Dingen. Platen hätte mit Napoleon reden oder in der Schlachtbei Leipzig mitfechten können ihm wäre es doch kein Erlebnisgeworden. Was finden wir denn für Erlebnisse in seinen Dichtungen?Daß der oder jener seine Gedichte getadelt hat oder gelobt! Bettinendagegen wird alles Erlebnis. Sie sieht einen Regenbogen under wird ihr Sinnbild fürden seligen Wahn, den ich habe vondir nnd mir". Jedes Wort, das Frau Rat ihr von Goethe er-zählt, ist ihr ein Besitztum; jede Blume, die sie sieht, erzählt ihrvou andern großen Mächten, die ihr heilig sind. Wie Rahels Krastdarin beruht, daß ihr alles neu ist, so Bettinens darin, daß allesihr vertraut ist. Jede Persönlichkeit, die in ihre Nähe gerät, jedeOrtlichkeit, jeder Moment verbinden sich mit ihrer Gedankenwelt inelektrischem Wechselstrom. Und so geht sie durch die reiche Weltwie eine Fee, und jeder Vogel spricht mit ihr, und jedes Tier desFeldes hört auf ihre Worte.