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1820—1830.
Temperament Entrüstung fordert oder Begeisterung, aber eben dnrchdiese Glätte hindurch um so schärfer die Umrisse der Dinge zeigend.Auch hierin gleicht er manchmal Goethe, gleicht er der hehrenMeisterin Goethes: „denn unsühlend ist die Natur"; und doch Wohlnur zum Schein; denn wäre diese freudige Teilnahme an allen Er-lebnissen verständlich, wäre sie auch nur denkbar ohne die geheimeGrundlage unbedingter Menschenfreundlichkeit?
Schwerer war es freilich, sich anteilsvoll in die Thatsachenund Persönlichkeiten zu vertiefen, als von außen her ein geschichts-philosophisches oder politisches Interesse in auserwählte Momentehineinzutragen. Die Zeit schwelgte noch in den großen Momenten.Und nicht so, wie es die Menschheit hoffentlich immer thun wird:daß sie in Augenblicken wahrer Erhebung eine Krönung des ge-wöhnlichen Daseins sieht, daß sie Leipzig oder Sedan, Schillers hundertsten oder Kaiser Wilhelms neunzigsten Geburtstag als Fest-tage feiert, die die Vollendung schwerer Arbeitswochen bedeuten.Statt dieser gesunden und wohlthätigen Feier der echten Festtageschwelgte die Zeit vielmehr in dem Arrangieren pathetischer Momenteohne höhere Bedeutung. Das war das Verhängnis König Fried-rich Wilhelms IV. (1795—1861). Der König, der sehr schlechtschrieb, hat zu den besten Rednern deutscher Nation gehört. SeineRede beim Kölner Dombaufest ist ein Prunkstück, um dessentwillenjeder antike Rhetor gepriesen würde. Aber was bedeutete diesesFest? Es gab keiner Tradition den Abschluß, es leitete keine neueein. Es war ein isolierter Akt, an dem sich ein von Geist undWohlwollen überströmendes Fürstenherz für Ideale begeisterte, dieringsum kein Echo fanden. Der König dürstete nach solchenAugenblicken; er besaß, wie ein französischer Geschichtschreiber vonseinem Wesens- und Leidensgenossen Karl Albert von Savoyen ge-sagt hat, „die Leidenschaft des Ungewöhnlichen". Große Feierlich-keiten, Eröffnung von Ständen, Einweihung von Kirchenbauten —das hebt ihn aus dem verhaßten Alltagsleben; mit den deutschenFarben um den Arm hält der preußische König einen theatralischenAufzug. Jedem Fürsten bringen Hoffeste und Paraden, die Pflichtdes „Repräsentierens", die Gewohnheit, alle Menschen in Gala zuerblicken, die Gefahr nahe, das einfache Alltagsleben zu übersehen;der Romantiker will dies gar nicht bemerken. So gerät der Ver-ehrer Friedrichs des Großen weit ab von den Bahnen des Monarchen,der in stiller prunkloser Arbeit der erste Diener seines Staates