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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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18201830,

es nicht war, hat er nicht bewußt gelogen. Er hat sich eben nieals eine Einheit aufgefaßt, er hat nie einen Widerspruch mit frü-heren Stimmungen, Aussagen, Meinungen als solchen empfunden,sondern immer nur im Augenblick gelebt; nur präparierte er jetztdie gewünschten Momente, die einst von selbst über ihn gekommenwaren. Bis zu seinem Tode blieb der Kranke Herr seines reichen Geistesund seines großen Genies; auf dem Krankenlager, von furchtbarenSchmerzeu gepeinigt, mit matt geschlossenen Augenlidern malte erimmer noch mit langen Bleistiften auf das Papier Verse von musi-kalischem Reiz, Satze von blendendem Witz, Kapitel von fein berechneterAbrnnduug. Seit er wirklich den Tod in der eigenen Brust fühlte,spielte er nur immer verwegener mit der Form, mit den Gedanken,mit seinem eigenen Wesen; er ließ sich eine Bekehrung zum Gottes-glauben durchleben, er dichtete sich zum politischen Vorkämpfer um und immer war es seinem Geist gegeben, sich selbst zu über-zeugen und zn täuschen. Weltberühmt wie kein deutscher Dichterseit Goethe ist er am 17. Febr. 1856 gestorben.

Heine ist vor allem Lyriker und ein so echter und unmittel-barer Lyriker wie wenige in der Weltlitteratur. Dennoch lernt manseine Eigenart nur dann ganz kennen, wenn man von den Reise-bildern ausgeht. Denn hier haben wir das Bergwerk vor uns, inden Gedichtsammlungen nur das herausgesprengte Gold. Treffendhat Legras gesagt, das ganze Lebenswerk Heines sei eigentlich nureine lange und wunderbare Galerie von Neisebildern.

Der Ausgangspnnkt für diese charakteristische Produktion istdie berühmteHarzreise " (1824 geschrieben, 1826 erschienen). Esist eine antobiographische Novelle. Nicht nur die Art, wie aus demText des Berichts die Lieder hervorwachsen, erinnert stark an dieim gleichen Jahr erschienene Meisternovelle Eichendorffs , denTauge-nichts". Vielmehr sind beide innerlichst verwandt. Der Dichter,den Heine von Göttingen ans den Harz wandern läßt, ist ein insRomantische übersetztes Ebenbild seiner selbst. Er trifft unterwegseinen anderen Wanderer, den er ans der thatsächlich vorge-nommenen Reise wie auch im Buche mit phantastischen Auf-schneidereien anzuführen sucht. Der geht nun aber eine für dieganze Zeit höchst charakteristische Episode! auf den Spaß einund spielt einen einfältigen Schneidergesellen; und da diese Kontrast-figur ihm prächtigliegt", glaubt Heine an die Maske und nimmtsie in seinen Bericht auf. Der Reisende, ein Herr Karl Dörue