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1820-1830,
Bilder und die pathetischen Stellen wirken nicht wie aufgenähteOrnamente — so wirken sie nur zu oft bei Brentano —, sondernwie Produkte einer momentanen Notwendigkeit. Momentane Not-wendigkeit — dies Wort bezeichnet vielleicht Heines poetische Kunstwie sein Schicksal im Leben am deutlichsten.
Unter dem Titel „Reisebilder" erschien noch im selben Jahre(1826) die „Harzreise" mit Gedichtcyklen in meisterlicher Anordnungverbunden. Der wichtigste ist die „Nordsee ". Nach Inhalt undForm geHort sie zu den originellsten Leistungen Heines . DerSchüler des Volksliedes und der Romantiker wird hier erst ganzselbständig.
Am meisten hat der Inhalt gewirkt. Die Poesie des Meereshat Heine erst für die deutsche Dichtung entdeckt. Natürlich ist es,daß gerade ihm das Meer ungeheuern Eindruck machen mußte: immerbewegt, in wechselnden rhythmischen Bewegungen doch immer eineGrundform; jeden Augenblick durch Beleuchtung, Wind, Bewegungvon Schiffen oder Fischen geändert und doch stets von großartigerGesamtwirkung, so mußte ihm die Nordsee wie ein Ideal der eigenenPoesie erscheinen. Doch dies allein erklärt es noch nicht, wie vonso vielen, die das Meer vom Strande beschauten, er erst diepoetische Fruchtbarkeit der See entdeckte. Es ist geradezu eineFrage der sinnlichen Organisation: es gehört ein ans Moment-bilder gerichtetes Auge dazu, um die Individualität der Seestim-mungen wahrzunehmen. Auch Goethe hat „Meeresstille" und „Glück-liche Fahrt" mit wunderbarer Kunst des Rhythmus gemalt; aberwie die Odyssee und wie die Mythologie des Volkes kaunteer nur zweierlei: das stille, ruhig daliegende, und das vom Windbewegte Meer. Heine versetzt sich in die Individualität der See;er belauscht diese nervöse Organisation, die sich an jeder kleinenKlippe bis tief hinein in den Horizont blutig stößt, die bei jedemleisen Ändern des Himmels ihr Gesicht ändert, die unter einerscheinbaren UnVeränderlichkeit Sturm und Ebb' und Flut undmanche Perle birgt. Und jede Stimmung giebt er wieder mit derSchürfe des Beobachters, steigert sie durch mythologische oder mensch-liche Staffage — und löst sie durch neue Eindrücke ab, wie eineneue Welle dahin rollt über die anderen, von dem Kiel eines fernenSchiffes erregt.
Dazu stimmt auch die wunderbare Kunst des Rhythmus. Heine gehört zu den wenigen deutschen Dichtern, die es nie verschmäht