Druckschrift 
Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
Seite
143
Einzelbild herunterladen
 
  

Heines Kunst.

143

dieselben wenigen Dinge Religion, Familienleben, Geldgeschäfte dieAugen zu heften das ruft eine Reaktion in den Seelen hervor,ein krampfhaftes Wegsehen von der Gefahr, ein idyllisch-kindischesNesterbauen am Rand des Vulkans, ein thörichtes gegenseitiges An-feinden und Annagen. Mit dieser tragikomischen Mischung vonVerzagtheit und Übermut wird aber das Ghetto zum Sinnbild dermenschlichen Gesellschaft überhaupt, die schließlich auch nur ein enges,abgesperrtes Massenquartier ist. Aber der geniale Plan über-stieg Hciues Kräfte. Schon in dem Fragment verraten Stil-losigkeiten, wie sie ihm sonst kaum begegnen, ein Ermatten; unddaß er den Plan aufgab, beweist zugleich die Grenzen seiner Kunstund die Sicherheit seiner Selbstkritik. Heine ist in der Blütezeitdes Dilettantismus vielleicht, ueben dem ihm verwandten Musset,der einzige Dichter, der keine Zeile stehen ließ, wenn er sie künstle-risch nicht verantworten konnte.

Vor allem gilt das von den Gedichten, die in Heines Lebens-werk nicht nur den breitesten, sondern auch ohue Frage den bedeu-tendsten Teil bilden. In diesem unerschöpflichen Füllhorn vonLiebesliedcrn, lyrischen Stimmungsbildern, Satiren, Romanzen,Bekenntnissen und Parodien findet sich mehr als genug, was mora-lisch zu beanstauden ist nichts, was künstlerisch wertlos wäre.Jene momentane Notwendigkeit, jene subjektive Wahrhaftigkeit desAugenblickes durchdriugt auch die unanständigsten Schilderungen,die häßlichsten Verdächtigungen, die bedenklichsten Cynismen. Mankann geradezu sagen, es lag in dem Dichter eine Art Wahrheits-sanatismus, der ihn zwang, seine augeublicklicheu Stimmungen undEinfalle anszusprechen, wie das ja auch Börues Scherzwort an-deutet: der Künstler in Heine ertrug keiue Lücke bei der Wieder-gabe eiuer Empfindungsreihe. Daß er uns so ein Tuch voll reiuerund unreiner Tiere bietet, liegt an seiner nichts weniger als sera-phischen Natur; uicht sein Fehler aber ist es, wenn gewisse Kritikerihn nur da verstehen, wo sie sich mit ihm im Kot finden. Wie durch eineSeele, die nicht mit Novalis' Erhabenheit oder Eichendorffs Innig-keit immer nnr dem Höchsten zugewandt ist, bunt all die Regungenziehen, die die bunte und unreine Welt erweckt, so kommen in seinenGedichten in berauschendem Neigen neben den lockersten Empfin-dungen die ernstesten zum Ausdruck. In seinenLamentationen"finden sich Schmerzensrufe, so tief und erschütternd, wie auch dergroße Lyriker des Pessimismus, Leopardi , sie uicht faud. Die Er-