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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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18S0-1830.

Heinrich Hoffmann von Fallersleben (17981874) er-gänzt Scherenberg in wundersamer Weise: man möchte sagen, erhabe all die Momente ausgelesen, die jener fallen ließ. Eine glück-selige Kindernatur, jeden Augenblick ganz bei der Sache wie nurein Kind beim Spiel, hat der neben Rückert produktivste LyrikerDeutschlands alle Stimmungen durchgekostet, alle Töne uicht bloßuachgesuugen, sondern auch wirklich nachgefühlt nur die echteLeidenschaft blieb ihm versagt. Er dichtet anmutige Kinderlieber,in denen ein glücklicher Vater mit feinen Kindern spielt; die furcht-bare Kraft, mit der Scherenberg imVerloreilen Sohn" seinenZorn über ein mißratenes Kind ansspricht, lag über seiner Begabung.

Mit Rückert teilt Hoffmaun von Fallersleben auch deu Philo-logischen Lebensberuf bei beiden kein Zufall; ihre Poesie ent-hält mehr bloße Sprachbeherrschung, als für den Inhalt gut ist.Aber im Gegensatz zu dem einsamen Land- und FamilienmenschcnRückert ist er durch und durch Stadt- und Geselligkeitsmensch.Bei aller wissenschaftlichen Arbeit, bei allem Mißgeschick und beiallen auch durch eigene Taktlosigkeit verursachten Konflikten wahrter sich die ganze breite Behaglichkeit seines Hnmors. Er singtin allen Masken und Tonarten, Gassenlieder, Salonlieder, Kinder-lieder, alemannische Lieder, Zeit- und Liebeslicder. Und das ganzeVolk sang ihm seine besten Lieder nach:Deutschland, Deutsch-land über alles" (1341; populär besonders seit 1870),TreueLiebe bis zum Grabe schwör' ich dir mit Herz uud Haud" (1839),Zwischen Frankreich und deni Böhmerwald" (1827) und andere.Der riesige Mann mit dem Naturknüppel in der Faust und derhalboffenen Weste hat weder Wilhelm Müllers musikalisches Ohruoch Heines künstlerisch abtönende Technik; was er giebt, istderbe, naturwüchsige Improvisation. Aber ein Lied wieDeutsch-land, Deutschland über alles" mit seinen mächtigen Trompetenstößenkann doch kaum jemand hören, ohne einzustimmen; man läuft mit,wie bei den marschierenden Soldaten, man schließt sich an, undunsichtbar marschiert der liederreiche Hüne mit dem Patriarchenbartvoran, fast eine mythologische Gestalt, wie der altnordische Sänger-held Starkad.

Politiker, Kämpfer siud die Männer dieser Jahrgänge fast alle.Daneben haftet sehr vielen etwas vom Volksprediger an, wie Hofs-mann von Fallersleben sich zuweilen in gereimte Predigten verliert,Jeremias Gotthelf und seiue Gruppe in Prosaische. Den geistvollen