Grabbes Geschichtsdramen, 163
der Franzosen und der meisten Deutschen auf einer neuentstandenenInsel ab, die ein breiter Wassergürtel von aller sonstigen Existenztrennt. Shakespeare hatte wohl in einigen seiner Königsdramen undein wenig auch im „Coriolan " und „Julius Cäsar" die breitere Existenzherangeholt, auch wo sie mit der heroischen Handlung nicht direkt zu-sammenhing; im Grunde war aber doch Schiller der erste, der im„Wallenstein " (nicht nur im „Lager") und vor allem im „Tell"das historische Moment in seiner vollen Ausdehnung darzustellensuchte. In demselben Augenblick, in dem ein Geßler wütet unddie Bedrückten sich erheben, spielt sich ruhig und fast unberührtüberall noch eine weitere Fülle von Leben ab: Fischerknabe, Hirtund Alpenjäger gehen ihrem täglichen Gewerbe nach, und barm-herzige Brüder ziehen betend und singend einher. Aber Schillerhatte immerhin noch auch auf diese Scenen des festen Hinter-grundes das historische Kolorit der Vordercoulissen abfärben lassen.Nicht so Grabbe. Er dreht die Sache um. Nicht das historischeFaktum ist die Hauptsache, der die Schilderung des Milieus nurals Grundlage dient; sondern im Gegenteil: die Gesamtzuständesind die Hauptsache, die durch das historische Faktum nur Hellerbeleuchtet wird.
Es ist also völlig irrig, wenn man in den niederländischenGenrebildern dieser Dramen müßiges Außenwerk sieht. Daß derJuuge auf dem Markt von Karthago Thunfische zum Verkauf aus-ruft, hat freilich mit Hannibals Schicksalen nichts zu thun; daßder Berliner in der Schlachtreihe Witze reißt, entscheidet nicht dasGeschick Napoleons . Aber in letzter Linie sind es doch die Straßevon Berlin und der Markt von Karthago oder tausend ähnlicheStraßen und Märkte, um deretwillen die Kriege geführt werden. Siebleiben; Hannibal und Hermann und Napoleon sterben. Es klingt hieretwas von Annettens Dogma an, von der Kleinheit der Großen gegen-über der Macht der Kleinen; und unsichtbare Fäden schlingen sichvon Grabbes „Napoleon" herüber zu Tolstois „Krieg und Frieden ",wo ebenfalls der beliebige Mann aus dem Volk der Held ist undNapoleon nur ein Grillparzerscher Rustan, ein Träumer uud Traum-held. Nur aber spielt bei Grabbe in die große Konzeption wiederder Geniekultus herein. Der Heros soll doch Heros bleiben, wennauch das heroische Moment in eine Kette trivialer Momente ein-gebunden wird. Ja der Held ist nicht einmal wie bei Heinrich von Kleist oder Willibald Alexis der Gipfel, der organisch aus dem breiten
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