180 1830-1840.
Lenaus dichterische Macht liegt in seiner Lyrik. Sie unter-scheidet sich von der großer Mitbewerber dadurch, daß jedesgelungene Gedicht (denn freilich finden sich bei ihm auch völligmißlungene) in sich vollendet ist. Es fordert weder die Musik zurErgänzung, noch eine nachgrabende Gedankenarbeit. Die Musikverschmähen seine Lieder, wie die Gedichte Hölderlins, sogar über-wiegend; sie sind mit ihrem wunderbaren Klang Musik an sich.„Die süße Wehmut jener Tage", sagt Anastasius Grün , „säuselt inmelodisch beruhigten Tonwellen an unserer feierlich ergriffenen Seelevorüber". Eine Nachhilfe unseres Denkens aber können die bestenseiner Gedichte deshalb abweisen, weil sie einfach und klar sindwie die Natur, wie ein Stück Natur selbst. Lenau bezeichnete seinegrößeren Dichtungen als „lyrisch-episch"; „lyrisch-episch" sind aberim Grunde alle seine Gedichte. Ein kurzer Bericht zeichnet einenAusschnitt aus der Natur, und indem der Dichter diesen Anblicknoch einmal durch die Seele ziehen läßt, entsteht ihm der lyrischeAusdruck. Am reinsten vertreten seine wundervollen „Schilflieder"diese Art. Er malt verschiedene Momente der Atmosphäre:Sonnenuntergang , Regen, Mondlicht; und aus dem Bilde wächsteine ihm entsprechende Stimmung hervor: Unruhe beim Gewitter,wonuige Melancholie in der hellen Mondnacht:
Auf dem Teich, dem regungslosen,Weilt des Mondes holder Glanz . . .
Weinend muß mein Blick sich senken;Durch die tiesste Seele gehtMir ein süßes Teingedcnken,Wie ein stilles Nachtgebet!
Byron hat zuerst den später von dem Genfer PhilosophenAmicl formulierten, oft citierten Satz ausgesprochen: eine Land-schaft ist nichts als ein seelischer Znstand. Diese vollkommene Ein-heit von Landschaftsbild und Seelenzustaud macht den unbeschreib-lichen Zauber der Gedichte Lenaus aus. Man kann nicht sagen, erdichte die Natur um; vielmehr sie dichtet ihn um. Sie macht mitihren wechselnden Stimmungen und Beleuchtungen das fügsame In-strument seiner Seele zum Träger wechselnder Melodien. Hierinläge etwas Goethisches, wenn nicht doch wieder das Bevorzugennnd Aufsuchen gerade melancholischer Stimmungen die Subjektivitätdes Dichters verriete: