Fr, Th. Bischer und D. Fr. StrauiV
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tischen Künstlerinteressen, ein Melnnchthon neben Vischers Luther-gestalt. Ein Meister des Epigramms und der Polemik überhaupt, aberohne jedes Gefühl für lyrische Tiefe; ein ausgezeichneter Stilist imSinne der Schule: klar, korrekt, sicher, aber ohne Originalität imAusdruck; in der wissenschaftlichen Arbeit von rücksichtsloser Ent-schlossenheit, im Urteil über alle Knust- und Zeitsragen zu einemblassen Kompromiß mit dem Geschmack der gebildeten Mittelmäßig-keit bereit mehr aus innerer Verwandtschaft als aus Berechnung— so war D. Fr. Strauß wie dazu geschaffen, mit seinem „Altenund neuen Glauben" (1872) die Bibel des „Bildnngsphilisters" zuschreiben. Sein „Leben Jesn" (1835) war eine That von kulturhisto-rischer Bedeutung. Wiederholt waren schon Ansätze dazn gemachtworden, auch die Evangelien im Lichte der strenghistorischen Kritikzu betrachten, wie Niebuhr und Ranke sie auf römische und neuereGeschichte, der ausgezeichnete englische Historiker, Politiker und Ge-schäftsmann George Grote (1794—1871) sie auf die altgriechischeHistorie angewandt hatte; aber Strauß zuerst wagte konsequent denBegriff des „Mythus" auf die neutestamcntliche Geschichte anzu-wenden und die unbewußt schaffende Wirksamkeit des gläubigenGemeiudegeistes zu einem Hauptträger der altchristlichen Traditionzu machen. Ein ungeheurer Aufschrei aus alle« Heerlagern derOrthodoxie war die Antwort. Strauß mußte, wie Bischer, die Ent-schiedenheit seiner Überzeugung mit dem Opfer seines Lehrberufesbezahlen, ohne daß es ihm, wie jenem in seiner langjährigen Pro-sessur in Zürich und Stuttgart , gelungen wäre, das Katheder wieder-zuerobern. Hier hat Strauß nie geschwankt; mit größter Uner-schrockenheit hat er seinen Standpunkt gewahrt, ja noch verschärft.Aber diese Entschlossenheit ging nicht so weit, daß er sich zuder Vorstellung einer neuen Religion erhoben hätte, als er die alteaufgab: uun bot er bloß Surrogate. Statt in die Kirche könneman ja in den Musiksaal gehen, statt der Bibel gute Alltorenlesen. Wie weit stand die Generation von allein starken Idealis-mus ab, der dies neue Evangelium genügen konnte! Und Strauß,ein guter Patriot wie mir einer, hielt das sür eine Gabe an dieSieger von 1870! Als sich die Opposition zu regen begann, alsNietzsche seinen Kampf für neue Begeisterungen mit einem Angriffauf den Propheten deS gutsituierten Jndiffercutismus eröffnete,staunte Strauß: er habe dem Menschen doch nie etwas gethan!Etwas vou dieser Art, alles persönlich zu nehmen, liegt auch sonst