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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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18301840.

ihren Willen; oder er gehorcht auch dem Drang, selbst anmutigeFormen herauszubilden, er sitzt an der Drechselbank, dreht Vasen,grübt in das Grnbkreuz für Schillers Mutter, die auf dem Fried-hof neben der seinen ruht, selbst die Inschrift ein. Diese gesundeLust, das Formen und Bilden auch an greifbarem Stoff zu ver-suchen, lag wohl in der Zeit; so hat auch der große PhilologFr. W. Ritschl (1806-1876) gern gedrechselt, und die Freudeam kunstgewerblichen Treiben übte Mörikes Freund Schwind gernanch an Pfeifenköpfen und ähnlichen Entwürfen. Aber beiMörike ist diese Liebhaberei kein Nebenwerk, wie denn über-haupt in seiner glücklichen Natur eins in das andere greift, er-gänzend und helfend. Er ist überhaupt einBoßler" wie manin Süddeutschland sagt, voll Freude am Herrichten kleiner Kunst-werke von jeder Art; unerschöpflich ist er in Gelegenheitsgedichten,die jenen liebenswürdigen Charakter sorgfältig bedachter Zweck-losigkeit tragen, der weibliche Handarbeiten zu schmücken Pflegt.Immer wieder muß man seine herrlichen Verse auf eine Lampecitieren, die seine eigene Art unvergleichlich charakterisieren:

Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter GeistDes Ernstes doch ergossen um die ganze FormEin Kunstgclnld der echten Art. Wer achtet sein?Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.

Dieselbe Gabe aber, aus jeder von anderen kaum beachteten Kleinig-keit ein Kunstwerk zu gestalten, selig in ihm selbst, verleiht auchden vollendeten Gedichten und größeren Schöpfungen Mörikes ihrenZauber. Er ist ein Lyriker von solcher Unmittelbarkeit, von so flecken-loser Schlichtheit, iu jeder Linie ganz unter dem liebevollen Banneiner goldenen Notwendigkeit, so zart und so melodisch, daß hierinnur Eicheudorff ihm verglichen werden kann. Von seinen Versen giltGottfrieds von Straßburg Lob der Verse Hartmanns von Aue:wie lauter und wie rein sind seine krystallenen Worte! sittig kommensie an uns heran, schmiegen sich an uns und werden jedem offenenSinn lieb. Und der Lyriker, der den Ton des Volksliedes traf wiekaum noch einer, der dasVerlassene Mägdlein" schuf (Früh,wann die Hähne krähn") undSchön Nohtraut", ist zugleich einMeister der Erzählungskunst wie jener Hartmann und wie Eichen -dorff, der Schöpfer der lyrischen Novelle, in der Theodor Storm undPaul Heyse den Spuren des von ihnen hochverehrten Meistersfolgten. Seine Novellen und vor allem jene unvergleichliche Perle