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1830-1840.
Goldsmiths „Vikar von Wakefield" erinnert — kann ja doch auchMr. Primrose selbst, der englische Landprediger, eine gewisse Ver-wandtschaft mit dem Pfarrer von Kleversulzbach nicht verleugnen.
In der Komposition und der Psychologie steht der Romandenen der Epigonen nahe. Auch die Beimischung der „romantischen"Elemente ist in der Art „Wilhelm Meisters" und seiner Nachfolgergehalten: eine wahrsagende Zigeunerin spricht verhängnisvolle Worte,geheimnisvolle Verwandtschaften greifen in das helle Leben düsterhinein, das Schauspiel im Roman uud die Gespräche über Kumtfehlen nicht. Und dennoch ist es ein Werk, wie Eichendorff oder Jmmer-mann, wie Tieck selbst es nie hätte schaffen können — auch wie es jetztvorliegt, nachdem eine unvollendete Umarbeitung der ersten Fassung beigroßen Besserungen keine volle Einheitlichkeit herstellen konnte. Dieungemeine Klarheit der zart gezeichneten Bilder (wie etwa der Wunder-volleu Winterfahrt im ersten Teil), die melodische Abstimmung derFiguren von der edlen Konstanze bis zu der lieblichen Agnes undvon dem schneidend scharfen Schauspieler bis zu dem weichenTräumer Nolten — das hat bei ihnen nicht seinesgleichen. Ge-wiß ist der Roman viel zu lyrisch uud auch der Abschluß mit demDreiklang Wahnsinn, Blindheit und Verzweiflung ist mehr demBedürfnis nach einem musikalisch stark wirkenden Schlußaccordentsprungen als der Anlage der Handlung und der Charaktere.Aber — wir leben hier eben nicht in unserer Wett. Trotz allerkräftigen Einzelbeobachtung, trotz allen sogar realistischen Detailsselbst in den phantastischen Märchen bleibt Mörikes Welt immereine lyrische, in der eigene Gesetze gelten, musikalische möchte ichsagen, die stärker sind als Psychologie und epische Logik. DennMörike ist in letztem Grunde ein mythologischer Dichter. Hierinliegt die Eigenart wie seiner Epik so seiner Lyrik. Ganz einzigsteht er hierin — trotz Lenau — in seiner Zeit, und nur denEngländer Keats (1795—1820) mag man ihm vergleichen. Keats teilt mit unserem schwäbischen Hellenen die doppelte Begeisterungfür national-volkstümliche Sage und für antike Formenstrenge.Sein berühmtes Gedicht auf eine griechische Urne bildet zu MörikesStrophe auf eine Lampe das Gegenstück; und ganz und gar hätteMörike die Worte wiederholen können, die Keats beim Betrachtender musicierenden Figuren auf seiner Urne spricht: „Süß sindMelodien, die wir hören, süßer, die wir nicht vernehmen."
Denn hier gerade liegt Mörikes wunderbarste Krast: Melodien