Stifters Stil, 2Y9
fest. Und wie Mörike die Schwingungen der Tonwelle anschaulichmacht, so konnte man Stifter nachrühmen, er habe die Stille dar-zustellen gewußt. „Es giebt eine Stille, in der man meint, manmüsse die einzelnen Minuten hören, wie sie in den Ozean derEwigkeit hinuntertropfen." „Er hat diese Stille gehört," sagt seinBiograph, „wie Goethe die Finsternis gesehen hat, die mit huudertschwarzen Augen aus dem Gesträuch sah." Die Stille auch derSeele. Die zarten Regungen einer in scheinbar völligem Gleichgewichtbefindlichen Seele schildert kein Meister moderner Seelenmikroskopie,wie sie der Autor der „Studien" schildert. Jene berühmte Er-zählung von den im Schneefall leise weitergehenden Kindern hatihresgleichen nicht: wie das Mädchen dem führenden Bruder ver-traut und jeden leisen Zweifel treuherzig beruhigt, wie der Bruderselbst sich tröstet — es ist Kleinkunst, aber ist doch große Kunst.Und auf welche Beobachtungsgabe stützt sich diese Schilderung!Stifter sieht auf einem Spaziergang ein Kinderpaar — gleich be-sitzt er das Bild so sicher, daß er es in einen „blauen Eisdom",in eine Gletscherhöhle (im „Bergkrystall") hineinsetzen kann, wieman lebendige Menschen von einem Platz auf den anderen trägt.Oder die tiefe, stille Erschütterung, mit der der Oberst in der„Mappe meines Urgroßvaters" den Tod seiner Frau erzählt —man vergißt das nicht; als hätte man es erlebt, haftet es in derErinnerung. Und noch in den beiden Romanen begegnen Ab-zeichnungen, so klar und rein wie in der Ferne bei Hellem, wolken-losem Himmel erblickte Umrisse. Aber freilich — die Ferne bleibt.Er ergreift, aber er erschüttert nicht. Die starken Bewegungen, dieer haßte, fehlen auch in der Wirkung seiner Schriften. StiftersSchriften sind der wehmütig-weise Abschiedsgruß einer schon halberstorbenen Zeit.
Mit Stifter vielfach verwandt, aber ein kleinerer Meister —und eine liebenswürdigere Natur steht Ernst v. Feu chtersleben(1806—1849) als letzter auf der Seite derer, die die unpolitische,antipolitische Litteratur verteidigten. Als Dichter hat er nicht vielzu bedeuten, wenn ihm auch gelang, mit seinem frommen Resigna-tionslied: „Es ist bestimmt in Gottes Rat" sich in das Herz seinesVolkes ties hineinzusingen. Aber als Popularphilosoph und Volks-erzieher hat der Verfasser der rein, klar und freundlich geschriebenen„Diätetik der Seele" (1838) ungeheuer gewirkt. Tausenden ist diesBuch ein Heilmittel geworden. Es kann auch heute noch gute
Meyer, Litteratur. 14