Der Zeitroman.
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Schwärmerei für Künste und Wissenschaften sonst nie etwas an-gemerkt hat. Lohnte es sich darum, einen so dankbaren Stoff wiedie Heiratsintriguen am Hose des Preußenkönigs zu einem Mario-nettenspiel mit versteckten Lauschern, Beiseite-Reden und hölzernenNarren wie diesem Seckendorff herabzudrücken?
Nach der Revolution — die Gutzkow in Berlin erlebt hatte,wo er, auf den Schultern umhergetragen, beruhigende Redeu audas Volk hielt — ward das Dresdener Hostheater aufgelöst; Gutz-kow blieb (bis 1860) als Schriftsteller in der sächsischen Haupt-stadt. Es war die Zeit seiner größten Fruchtbarkeit und seinerstärksten Macht. Als Kritiker beherrschte er Deutschland ; seit seinebeiden großen Romane, „Die Ritter vom Geiste" (1850—1851) und„der Zauberer von Rom" (1858—1861) erschienen waren, galt erunbestritten für den ersten Schriftsteller, den wir besaßen. Auchder Nachwelt werden sie mindestens als sein bester Titel auf Nach-ruhm gelten, mag auch unserer Lesewelt schon der Umfang vonvier Bänden zu groß sein, auf den Gutzkow beide Werke aus demvon neun Bänden verkürzte.
Novellen hatte Gutzkow schon früher geschrieben und (1846)der ersten Sammlung seiner Schriften ein ganzes Novellenbuch ein-verleibt. Sie zeigen, wie fast alle Novellen jener Epoche, den Ein-fluß Tiecks , ohne doch in der Zeichnung der Gestalten, in dengeistreichen Reflexionen, in dem zerflatternden Aufbau jungdentscheEigenheiten zu verleugnen. Aber Paris brachte ganz neue Ein-flüsse. Gerade als Gutzkow dorthin kam, erschienen die berühmtenTendenzromane von Eugene Sue (1804—1857): die „Geheimnissevon Paris" (1842—43) und „Der ewige Jude" (1844—1845).Ihren ungeheuren Erfolg verdankten sie zwei Momenten: der Tendenzund der Technik. Die Tendenz gab sich als social: für die Armenund Elenden sollte Mitleid erweckt, noch mehr aber gegen dieReichen und Begünstigten Haß erregt werden. Die Technik be-herzigte, was Laube im „Wilhelm Meister" als Hauptvorzug be-merkt hatte: die Vielfältigkeit. Wie in einer riesenhaften Mysterien-bühne baute Eugene Sue die sociale Welt von Paris übereinanderauf iu all ihren Schichten vom tiefsten Elend bis zum höchstenGlanz. Was Balzac auf die Romanreihe seiner „ (üorrMis llumg.ins"verteilte, drängte der geschickte und erfindungsreiche Schnellschreiberin einen Roman zusammen. Es war den Zeitgenossen, als habeLesages Teufel die Dächer aller Hänser von Paris vor ihnen auf-
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