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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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1830-1840.

Halms lüsterne Sinnlichkeit, die anch aus Scenen desAdepten",desFechters" und anderer Dramen hervorlodert, hat in diesemohne Frage geistreichen Wagestückchen seine Hauptprobe geliefert.Ein Grasentöchterchen wird um einer Erbschaftsintrigue willen alsSohn erzogen und entwickelt sich zu einem Pseudojüngling von tollerWildheit. Es giebt nun zu Scenen von prickelnder Pikanterie Anlaß,wie der in sie verliebte VetterWildseuer", deren Geschlecht erkennt, znm gemeinschaftlichen Baden auffordert uud dergleichenmehr. Schließlich entdeckt die Verkleidete ihr wahres Wesen undsie istein jnnges, holdes, unschuldig reizumblühtes Mädchen".WieWildfeuer"mit einemmal ein ganz sanftes Lämmchen wird",hat man mit Recht als groben psychologischen Fehler hervor-gehoben. Ein übermütiges Possenstück,der geschundene Raubritter",desseu Autorschaft, ich weiß nicht mit welchem Recht, Gerstäcker zu-geschrieben wird, parodierte diesen Knalleffekt: ein graubärtigerSchmiedemeister, der drei Akte lang mit herkulischer Kraft gehämmerthat, wird plötzlich erkannt alsein zartes, holdes, vielgeliebtesWeib" . . .

Im Gegensatz zu diesen Dramen, in denen berechnende Lüstern-heit und zcrsließende Sentimentalität wie bei Kotzebue nnd Claurensich umarmeu, sind Halms Erzählungen (ans dem Nachlaß heraus-gegeben 1872) kuapp und kräftig, weil der talentvolle Nachempfindersich hier Heinrich v. Kleist zum Muster uahm.

Das sind die Männer, die dem Jahrzehnt von 183040 dieSignatur geben. Vor allem ist es die Periode des JungenDeutschland nicht nur, weil die Tendenzen der Gutzkow undLaube sowie der ihnen durch die Thorheit des Bundesrats auf-gedrungenen Schutzheiligen Heine und Borne den stärksten und nach-haltigsten Einfluß ausübeu, sondern vor allem, weil in dieser Schulewirklich das am stärksten zum Ausdruck kommt, was der ganzen Zeiteigen ist. Es ist jene Freude an der Fülle der Erscheinungen, die sogarder Pessimist Lenau nicht verleugnen kann, wie sie den OptimistenMörike beseligt, die Ludwig Feuerbach zur Grundlage seiner Reli-gion, Ranke zur Grundlage seiner Geschichtsforschung macht. Beiden stärksten Individualitäten der Zeit nimmt sie gern die besondereFärbnng eines eigenwilligen nnd übertreibenden Titanismns an:die Persönlichkeit empfindet sich alsNatur",Vollnatur",Boll-saftnatnr" und hat ein kindlich-geniales Behagen daran, eine mög-lichst erstaunliche Welt wechselnder Erscheinungen aus ihrem Mikro-