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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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Eine neue Nationnlkirchc!

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schwebte einem ganz anderen Manne vor, der die umgekehrte Bahnwandeln sollte: nach langer harter Verkennung und Anfeindung zuunerhörten Triumphen. Richard Wagner (18131883) kamnicht von der Religion her, sondern aus der Sphäre der Kunstund der Philosophie; und so nahm sein Traum einer neuen Kircheeine ganz andere Gestalt an. Dennoch ist mit diesem Ausdruck dieGesamtheit seiner Bestrebungen und Hoffnungen vielleicht am zu-treffendsten bezeichnet. Eine geistige Gemeinschaft in der Verehruuggewisser philosophisch-religiöser Dogmeu, Festspielhäuser als Stättender gemeinsamen Andacht, eine zweckmäßige Organisation der Be-kenner unter energischer Leitung das ergab eine ästhetische Kirche;und der Übereifer der Jünger gab bald anch die Ketzerverfolgungund den Heiligendienst dazu.

Den Musiker haben wir hier nicht zu würdigen, uud denPhilosophen nur zu streifen. Zuzugeben ist aber freilich, daß esschwer ist, den Schriftsteller abzutrennen. Schriftstellernde Musikerhat es immer gegeben. Karl Maria v. Weber (17861826)und Felix Mendelssohn-Bartholdy (18091347) brachtenein angestammtes schriftstellerisches Talent als Briefschreiber zurGeltung; Robert Schumann (18101856) und Hans v. Bülow(18301894), Richard Waguers sächsische Landslcute, gehörenzu unsern hervorragendsten Kritikern, jener unerschöpflich in an-mutigen Einkleidungen und graziösen Wendungen, im Stil vonJean Paul und E. Th. A. Hoffmann stark beeinflußt, dieser witzig,in Wortspielen Virtuos, mit einer an Heine gemahnenden Vervedes Stils. Aber in Wagner ist die Musik von seiner dichterischen,die Textgestaltung von seiner musikalischen Anschauung mit beherrscht,und so ist in gewissem Sinne jedes seiner Werke, die agita-torischen Prosaschriften selbst nicht ganz ausgenommen, einGesamt-kunstwerk".

Richard Wagner (geb. 22. Mai 1813 in Leipzig ) wurzeltmit seinen Grundanschauungen in jener Epoche, die den Über-gang von der Romantik in die unruhige Thatenlust des JuugeuDeutschland bedeutet. Ausläufer der Romantik wie E. Th. AHoffmann und der Philosoph Feuerbach , Vorläufer des JuugeuDeutschland wie Heinse und Heine haben auf seine schriftstellerischeProdultion stark eingewirkt. Von Heine stammen die Grund-motivc desFliegenden Holländers" und desTannhäuser ",wie von Hoffmann seine Anschauungen über das Verhältnis von

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