Richard Wagncrs Kmistlehre.
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stehenden Sprachansdruck zur überzeugendsten Fülle der Melodie znsteigern". Aus dem Sprachstoff hebt er zur Verwirklichung seinerdichterischen Absicht zunächst die Versmclodie heraus, und diese ver-vollkommnet er durch die musikalische Anfhöhnng der Accente.Nichts konnte Wagner also entschiedener verurteilen als jene „sprach-beleidigende" Rücksichtslosigkeit, mit der frühere Komponisten dieBetonung der Sprache zu Gunsten ihrer Melodien vergewaltigthatten. Die Sprache nnd die Musik waren in der Urzeit verbrü-dert; jetzt waren sie so weit getrennt wie möglich: Wagner führtMendelssohns „Lieder ohne Worte " als klassisches Symptom an,wir könnten an die unmusikalische, ja antimusikalische Lyrik so be-deutender Dichter wie Jmmermann, Grillparzer, Gottfried Keller erinnern. Es gilt Sprache und Musik wieder zu vermählen, znvermahlen aber auch mit ihren ursprünglichen Geschwistern, demTanz, der Mimik; und so kommt Wagner folgerecht zu seiuem„Kunstwerk der Zukunft", dessen Gegenwart er in Bayreuth nocherleben durfte.
Fragt man nun nach der praktischen Verwirklichung diesesmit bewundernswürdigster Folgerichtigkeit und Energie entwickeltenund bis ins einzelne durchdachten Programms, so ist nochmalsdaran zu erinnern, wie schwer gerade um dieser von Wagner be-tonten Einheitlichkeit willen der „tonvermählte Dichter" nur nachseinen Versen zn beurteilen ist. Wagen wir es doch, so müssenwir auch wagen auszusprechen, daß er in seinen Dichtungen dieHöhe der eigenen Forderungen so wenig erreicht hat, wie etwader in mancher Hinsicht ihm vergleichbare Klopstock. Die Sprachehat er schließlich von seinem Standpunkt aus kaum weniger ge-waltthätig angefaßt als die Verfasser schlechter alter Libretti.Es war die Urmelodie aus dem Sprachmaterial doch nicht mehrso leicht herauszuhören, das Jahrhunderte glättend und verwüstendüber sich hatte ergeheu lassen, und wenn er etwa aus verwittertenWorten mit Hilfe falscher Etymologien die „wurzelhaft syllabischeMelodie" der Rheiutöchter bildete, lenkte er ganz in die Pfaderomantischer Sprachrätselei ein. Auch die Ernenernng des Stab-reims, so eingehend Wagner sie aus dem Wesen der deutschenSprache rechtfertigt, entspricht zu wenig ihrem „gegenwärtigenLeben" und bleibt eine jener störenden Absichtlichkeitcn, an denendie dichterische Produktion des ganzen Zeitraums leidet. Nichtminder hat Waguer oft den Endreim vergewaltigt; besonders aber bleibt
Meycr, Litteratur. 18