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einbüßten, die etwa Goethes Prometheus oder Faust bei allertypischen Bedeutung behielten? und ging das weniger aus einemMangel an künstlerischer Gestaltungskraft als aus einer Theoriehervor, die durch äußerste Gemeingültigkeit den Figuren die Mög-lichkeit wahren wollte, aus großer Entfernung angeschaut zuwerden, so hat dann eben die Theorie hier wie bei den Roman-tikern so oft die Praxis tief geschädigt. Die Allgemeinheit solcherGestalten wie etwa Gurnemanz im „Parsifal " erinnert fast anFouaues blasse Umrisse, während die individuell gedachte, aber nichtlebendig gewordene Abstraktion einer Kuudry oder eines Amfortasimmerhin neben die ebenfalls allzu „gläserne,:" Gestalten mancherDramen Hebbels zu stellen sind, in deren Inneres man so klarhineinblickt, daß alle Illusion verloren geht, als flösse Blut in ihrenAdern.
Aber deshalb hat Wagner doch nicht zu den Dichter,:gehört, die uur mit dem Kopfe schufen. Einer merkwürdig sicherrechnenden Intelligenz stand eine leidenschaftliche „Empfängnis-fähigkeit" zur Seite. Die Empörung gegen sociale Zustände, unterdenen alles öffentliche Leben litt, hatte Wagner zum Revolutionärgemacht. Der Anblick der Pariser Schuljugend, die am Schlnßtagder Ausstellung (1867) in den Palast strömte, zwang ihm Thränenund Schluchzen ab; so fühlte er die Entfremdung dieser Menschheitvon seinen Idealen. Er vermochte das Volk geradezu zu definierenals „alle diejenigen, welche Not empfinden und ihre eigene Notals die gemeinsame Not erkennen, oder sie in ihr begriffen fühlen".Er war auch ein „guter Hasser" wie sein Zeitgenosse Vismarck;und vor allen: in den Jahren seines Erfolges traten die subjektivenBegrenztheiten seiues Wesens störend hervor: eine bittere Gehässig-keit, die jeden prinzipiellen Gegner, ja eigentlich jeden Nichtanhängerals persönlichen Feind behandelte und sich nicht scheute, von einemMoltke in demselben Ton ironischer Überlegenheit zu reden wievon obskuren Journalisten; eine Neigung, die Bedeutung der Meisterlediglich nach ihrem Verhältnis zu ihn: abzuschätzen und Liszt himmelhoch über den „schwülstigen Schumaun" oder den ignoriertenBrahms zu erhebe::; eine undankbare Zurückschiebung oder auchAnfeindung früherer Gönner und Helfer. All dies hat eine auchauf die persönliche Unbeflecktheit des Meisters eingeschworene Kirchen-gemeinde als Verleumdung zurückgewiesen; wie Schopenhauer sollte(und soll) auch Richard Wagner wenn nicht ein Gott, so doch min-
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