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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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18501860.

Formstrenge ist der meisten sicheres Merkmal. Sie sind Dichter für denFeiertag; sie dichteten für die deutsche Litteratur. Es wird ihnen keinereine gewisse reservierte Vornehmheit bestreiten, die ihnen auch als Menscheneignete. . . Was an ihnen leben blieb und bleibt, ist manch schönes Ge-dicht. Wenn sie die Bretter beschritten, so griffen sie alle nach Stoffen, dieihrer sanften Vornehmheit nicht lagen. Ein Tibcrius war fast Tradition.Ein Nero durfte seltcu fehlen. . . Und alles, wie man heut fchon ohneWiderspruch behaupten darf, ergebnislos.

Den Grund dieserErgebnislosigkeit" findet Bnsse da, woauch wir ihn fanden: in der geringen Intensität des Erlebens, indemMangel an keck hervorbrechendem Temperament, an sprung-bereiter Leidenschaft, an harter Männlichkeit". LiebenswürdigeLyriker des Herzens, nehmen sie das Leben nicht ernst genug, weilihnen für all seine Härten und Schärfen das Organ fehlt. Siefühlen mit der Wünschelrute umher, wo etwa poetisches Gold liegt,interessante Themata, dankbare Stoffe; das haben sie vergessen,daß das volle Menschenleben, wo man es auch packt, interessantist; oder vielmehr: sie gehören zn denen, denen dies volle Menschen-leben gar nicht bekannt ist. Sie gehen wieder zurück hinter dieleidenschaftliche Freude an allein Lebendigen, die einmal schon er-obert war. In der Form oft große Künstler, bleiben sie in derHauptsache, iu der Erfassung der Welt, Epigonen, Dilettanten.

Der letzte Nachkömmling dieses Kreises, Lingg und Grosse engverwandt, wenn auch um ein Jahrzehnt und darüber jünger, istMartin Greif (geb. 1839) aus Speyer der einzige Bayer indem eigentlichen Münchener Kreis (denn Kobell gehörte nur per-söulich, uicht als Dichter zur Schule Geibels) und auch er nur impolitischen Sinne: der bayerische Stamm hat für diese norddeutsch-kühle Formsicherheit kein Organ, bei ihm schafft die Stimmungsich die Melodie und die Melodie die Worte. Hermann Frey,wie der Poet eigentlich heißt, brachte zu den anderen Merkmalender Münchener Jungklassiker noch die freilich modernere Ner-vosität; und wir hätten ihn deshalb für die nächste Periode»ersparen können, der er auch nach dem Datum seines ersten Auf-tretens (1861) angehört, wäre er nicht sonst in jedem Zug einBlut- oder besser ein Milchbruder vou Lingg und Grosse. Derjunge Offizier, der wegen seiner Kopsschmerzen nur einen Helmaus Pappe tragen durfte, schied bald (1867) aus dem Heer undmachte München zum Ausgangspunkt seiner Reisen in alle roman-tischen Länder. Es ist gefährlich, über ihn unbefangen zu urteilen,