Der Essay: Gildemeister.
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wohl sein. — Die Gattung stammt von den Griechen; Plutarch istihr erster Klassiker. Dann hat der unvergleichliche Montaigne(1553—1592) sie neu belebt; mehr aber als seine französischenNachfolger haben die englischen Essayisten aus die Väter des deutschenEssays gewirkt. Von Macaulay (1800—1859) lernte vor allemauch der Mann, der in diesem Geburtsjahrzehnt des echten deutschenEssays als erster Meister auftrat, spät genug in seiner Bedeutunggewürdigt: Otto Gildemeister (geboren 1823) aus Bremen , dervortreffliche Übersetzer Byrons, Ariosts, Dantes, dessen „Essays"(1896) eine wahre Schatzkammer feingeschliffener, gedankenreicher,nie an der Oberfläche haftender und nie bis zur Atemnot unter-tauchender Aufsätze sind.
Früh ward dagegen Herman Grimm (geb. 1828 in Kassel )berühmt, Wilhelm Grimms Sohn, Achim v. Armins und derBettina Schwiegersohn. Er ist der geborene Essayist, und anchseine seinsinnigen, zart abgetönten Novellen (zuerst 1856) habeuetwas von dem reizvollen Umherirren dieser Gattung, die sichnicht gern mit drückenden Notwendigkeiten beschwert und in derselbst das Tragische gern durch den leichten Schein einer gewissenWillkür in das Bereich des ästhetischen Spiels, der freien Übunggeistiger Kräfte gerückt wird. Sein großer Roman „Unüberwind-liche Mächte" (1867) giebt geistreiche Bilder aus dem Leben derAristokratie nnd der amerikanischen Neukultur, führt interessanteCharaktere in interessante Situationen, in das Haus des gefeierten,Herman Grimm besonders werten Populärphilosopheu und EssayistenEmerson (1803—1882), auf die Schlachtfelder von 1866 — nndhinterläßt schließlich doch den Eindruck einer modernen Erneuerungdes mittelalterlichen Ritterromans. „Sie schlagen sich, genießendas Dasein planlos, sind schön und stark und suchen Abenteuer."Die großen biographischen Werke, das Leben Michelangelos (zuerst1860) uud Raphaels (1872) und vor allein die Vorlesungen überGoethe (zuerst 1877) sind in der Kunst des Einfühlens und Nach-fühlens, in der objektiven Reproduktion historischer Momente, inder Verlängerung unsterblichen Lebens auf die Gegenwart denWerken Jnstis und Hayms schwerlich gleichzustellen; aber sie über-ragen sie au ästhetischem Reiz. Gerade das Essayartige in ihnenwirkt so unvergleichlich, so lebensvoll: überall sühlt man eine geist-reiche Persönlichkeit, die im Vollbesitz ihrer Kräfte, großer Belesen-heit, virtuoser Gabe des Einfalls, fesselnder Diktion die Dinge um-