Druckschrift 
Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
Seite
589
Einzelbild herunterladen
 
  

Hennan Grimm.

589

sich der wissenschaftliche Spieltrieb Grimms in engeren Grenzenund beschränkt sich auf eine stark subjektive Umdeutung und Uni-dichtung großer Männer und Momente im Sinne ihres eigenenIdeals. Sein Standpunkt ist der, den er einmal Goethe zu-schreibt: ihm komme es daraus an, einen Gedanken aus Aristo-teles herauszulesen, der für ihn, den Leser, fruchtbar sei. Er willgar nicht genan wissen, was Aristoteles eigentlich meinte.DasWirkliche berühren wir nur mit Schander. Wo es uns gelänge,eine That bis auf die kleinsten Fasern zu ergründen und anatomischdarzulegen, da würden wir doch nur ein leichenstarres, erheucheltesLeben, ein Gespenst hinstellen, das keine Frage beantwortet. EinPorträt aber aus der Hand eines großen Künstlers, der das Ewigevom Alltäglichen scheidet, den Menschen neu bildet, nicht wie er war,sondern wie er ihn erblickte, das redet zu uns, und seine Lippenverschweigen mir das, was ein Geheimnis bleiben muß." JacobGrimm mag sich über den Satz, daß wir alles Wirkliche nur mitSchauder berühren, bekreuzigt haben, denn ihm war alles Lebendigeheilig; auch wir empfinden darin eine gewisse Hysterie, eine krank-hafte ästhetische Nervosität. Aber damals war gegenüber den rohenTriumphen eines geistlosen Materialismus, der den Geist leugnete,weil er ihn nicht kannte, ein trotziges Bestehen auf dem Recht derKnnst heilsam. Heilsam war es, den übermütigen Geschichtsforschernzuzurufen:Jedes historische Werk ist die einseitige Ansicht einesbeschränkten Menschen". Heilsam war es, in Goethes Sinne dieWahrheit der historischen Legenden und Lügen zu betonen. Alldas hatte wirklich die Wahrheit, die Notwendigkeit des historischenMoments. Und darüber hinaus wirkte der stete Hiuweis aufGoethe, von dem jene Zeit lieber nichts wissen wollte, der ihrmindestens in der übrigens wohlwollenden nnd verdienstlichen,aber doch immerhin verkleinernden Wiedergabe durch den Eng-länder Lewes (1855, deutsch von Frese 1857) genügte. NebenHeyse und Spielhagen, Karl Hillebrand und Nndolf Hildebrandhat Herman Grimm am meisten dafür gethan, Goethe wiederinden Dienst unserer Zeit" zu stellen; Wilhelm Scherer und dieneuere Goethephilologie, die viel verleumdete treue Dienerin derdeutschen Nation, hätten ohne diesen Propheten ihre tapfere Arbeit,Namen in Anschauung, Tradition in lebendige Kenntnis umzu-wandeln, vielleicht uoch kaum gewagt, sicher aber nicht mit solchemErfolg unternommen.