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Thatsache . Ein Litterat von mäßiger Begabung, der vom Theo-logen Bildhauer und vom Bildhauer Dramatiker geworden war,Albert Brachvogel (1824—1878) aus Breslau , errang plötzlichmit seinem Trauerspiel „Narciß " (1857, aufgeführt zuerst Frühjahr1856) einen phänomenalen Erfolg, wie er etwa bis zu Sudermanns„Ehre" nicht wieder erlebt wurde. Die dramatische und poetischeWertlosigkeit des Effektstücks habeu auch mildere Kenner als OttoLudwig vernichtend aufgewiesen. Unter den historischen Dramen derZeit gab es, wenn wir selbst von den „Makkabäern " und der„Agnes Vcrnauerin" absehen, Dichtungen genug, die dem Publi-kum interessantere Scenen, den Schauspielern bessere Rollen gaben.Woher dieser durchschlagende, noch heure nach vierzig Jahren undlange nach dem Tode des berühmten „Narciß " Dessoir nicht ganzverklungene Erfolg? Er lag ganz in der Figur des Helden. Ausjenem „Neffen Rameaus", der in Diderots, von Goethe auf Schillers Vorschlag übersetztem Dialog die Führung hat, aus diesem „Reprä-sentanten aller Schmeichler und Abhänglinge" machte Brachvogeleinen ganz anderen Typus, aber wieder einen „ein ganzes Geschlechtdarstellenden Menschen". Mochte Narciß Rameau noch so unwahrgezeichnet sein, mochte er die Pagode noch so theatralisch herab-stoßen und die Pompadour mit noch so hohler Rhetorik verdammen— das Publikum erkannte in ihm seine Generation leibhaftig.Das war die noch ohnmächtige, aber zur Agitation sich entwickelndeKritik, die mit Musik und Litteratur anfängt und mit dem Staatnoch lange nicht endet; das war die Enttäuschung einer Zeit, dieüber verlorenen Idealen sich selbst verloren hat; das war die Wutder Schwachen und Wehrlosen gegen all die Pagoden auf hoheuPostamenten. Als wäre er ein Nathan, ein Posa, so ward Narcißbeklatscht; mau erlebte den Übergang von dem kritischen Rüsonne-ment zur That auf der Bühne mit. So ward ein schlechtes Dramaein bedeutsames Symptom, ein Vorbote für die Thätigkeit derDühring, der Haeckel, der Treitschke, der mächtigen Agitatoren, dieauf die Kritiker, die Satiriker, die Betrachter und Essayisten folgten.
Ohne die Strömung, die sich in dem Erfolg des „Narciß "mit so überraschender und nachhaltiger Stärke offenbarte, ist derMann nicht zu verstehen, der den Übergang von unserem Jahr-zehnt in das folgende verkörpert, der agitatorische Essayist, der agi-tatorische Romanschriftsteller, der Agitator in hundert Verkleidungen:Friedrich Spielhagen .
Meycr, Litteratur. 38