Druckschrift 
Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
Seite
595
Einzelbild herunterladen
 

Friedrich Spiclhagen. 59Z

Realität der Menschen und Dinge hinzustellen, zeuge er nur voneinerseichten, die Phantasie mehr durch Lektüre als durch Wirk-lichkeit nährenden Jdealistik". Die Worte sind scharf; sie sindscharf und im Werturteil überscharf aus der Notwehr des Kampfesheraus, den die neue Kunst gegen den letzten starken Repräsentantendes alten Romans zn führen hatte. Aber der Standpunkt, dendie gestrengen Kritiker einnahmen, war meines Erachtens nichtnur subjektiv berechtigt; er wird im wesentlichen und unter Milde-rung der harten Ausdrücke auch von dem objektiveren Urteil spätererKritiker geteilt werden müssen. Ja, Spielhagens Roman besitztfast alle Kunstfehler des juugdeutschen, aus dem er hervorgegangenist. Nicht nur der Erstling, dieProblematischen Naturen",auch die späteren großen Werke, die bezeichnendsten vor allen,InReih und Glied" (1866),Hammer und Ambos" (1869),Sturm-flut" (1876), haben noch ganz die phantastische Romanhaftigkeit derGutzkowschen Zeiterzählnngen. Die socialen Klassen, durch grelleTypen repräsentiert, werden durch uneheliche Kinder mit geheimnis-vollen Schicksalen in symbolische Beziehungen gebracht; ein geist-reicher Held mit zerrissenem Herzen und ein Jesnit von unglaub-licher Gewandtheit uud Zielbewußtheit vertreten die politischenParteien, Gespräche voll unmotivierter Zeitbeziehungeu stellen sichalle Augenblicke ebenso gewaltsam ein, wie abenteuerliche Erlebnisse,Dolchstöße italienischer Banditen im Berliner Tiergarten oder effekt-volle Begegnungen der Entferntesten. Spielhagens Roman ist, wiedie Brüder Hart mit Recht betonen, so didaktisch und tendenziöswie nur irgend der Gutzkows oder Laubes; schon in den Titeln(wieIn Reih und Glied"), mehr noch in breiten Auseinander-setzungen der Hauptfigureu, in rhetorischen Explosionen (Festreden,Toasten, Leichenprcdigten) drängt sich die Subjektivität des Autorsübermächtig hervor, der theoretisch so leidenschaftlich für die epischeObjektivität gefochten hat. Am stärksten aber zeigt sie sich in derUngerechtigkeit der Charakterzeichnung. Spielhagen meint objektivzu sein, weil er seinen Gestalten nicht ins Wort fällt; dafür läßter seine liberalen Lieblinge ebenso glänzend reden, herrlich handeln,unwiderstehlich wirken, wie ihre junkerlichen oder geistlichen Wider-sacher in Sprache, Benehmen und Erfolg lächerlich dastehen. Nichtnur in denProblematischen Naturen" sinken die Zerrbilder desAdels von der Insel Rügen uuter das Niveau von GrillparzersGalomir herab und glauben, Adam und Eva seien Kammerdiener

38*