Print 
Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Place and Date of Creation
Page
600
Turn right 90°Turn left 90°
  
  
  
  
  
 
Download single image
 
  

600 1850-1860.

liebe schildert als glänzende Reiter und wetterharte Förster. Den-noch ist die Tendenz ihrer Schriften eine viel höhere als diegewöhnliche von Büchern mit pädagogischer Absicht. Die Ver-kümmerung der Menschenseele durch alltägliches Schicksal drückt aufihr nach der Schönheit eines freien Menschenbildes begierig dürsten-des Gemüt. Wie für Wilbrandt ist die wirklich schöne Seelefür sie das höchste Ziel der Schöpfung. Es zuckt ihr in denFingern, diese Gestalt zu erschaffen, sie frei zu machen von demAlltäglichen. Und darin eben liegt das durchaus Künstlerische ihrerpädagogischen Richtung. So entstehen ihre Erzählungen: lauterVersuche, aus dem geliebten Menschenbild das Schöne hervor-zuholen.

Die Kinderlose hat die meisten Kinder." Es ist bezeichnend,daß Frau v. Ebner es liebt, die Geschichte ihrer Helden und Hel-dinnen mit der Kindheit beginnen zn lassen; und eine größereMeisterin der Kinderpsychologie giebt es wohl nicht. Fast immerkehrt das gleiche Paar wieder: das wilde, starke oder aber ganzsanfte Mädchen, und der sie blind verehrendedumme Bursch";aber welche unendliche Fülle der Schattierungen dies Verhältniszuläßt, offenbart ein Vergleich desGemeindekindes" mit demSchädlichen" und demVerbot" (Alte Schule" 1897). Sie ver-liebt sich gern ein wenig in die unwiderstehliche wilde Hnmmel(Die Resel" 1893) oder in das naive Kinderherz (Die Poesie desUnbewußten" 1893); aber sie faßt sie doch fest ins Auge und über-sieht uicht, was in gefährlichen Keimen etwa unter lockender Ober-fläche liegt. Weit mehr, als man bei derreaktionären" Vor-kämpferin derAlten Schule" erwarten sollte, ist ihr RomanExperimentalroman" im Sinne Zolas ; doch freilich so, daß sie,wie Ibsen, wie Fontane , das Experiment mit der anschauendenPhantasie durchführt, uicht mit dem rechnenden Verstand. Vor alleminteressiert sie die Frage, wie weit erbliche Einflüsse zu überwindensind (Das Schädliche"). Einer ernsten Liebe, einer zielbewußtenErziehungskuust traut sie viel zu (BoSena";Rittmeister Brand"),mehr der Kraft ernster Selbstbesinnung, die leicht ausgestreuteSamenkörner fruchtbar werden läßt (Das Gemeindekind";DieTotenwacht" 1894). Das mächtige Beispiel einer ganz begeistertenSeele vermag auch wohl noch den reifen Mann umzubilden (DerKreisphysikus" 1893), zumal unter der Mitwirkung mächtiger Er-innerungen und starker Erlebnisse (Nach dem Tode"). Schlechte