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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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Marie v. Ebner als Erzieherin.

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verderbliche Erziehung ist aber freilich auch gute Anlagen zu zer-stören im stände (Er läßt die Hand küssen",Zwei Comtessen").

Eine schwere Verantwortung lastet deshalb auf allen Er-ziehern; und als geborene Erzieher faßt Frau v. Ebner alle auf,die Begabung, Alter, socialer Rang oder irgend ein Vorzug mitder Fähigkeit ausstattet, zu wirken. Ohne Kraftvergeudung ingroßen Reden und überflüssigen Anläufen, ernst und tapfer, wiees ihre Lieblinge alle sind, Boöena und Lotti, Oversberg undBrand, soll jeder im engsten Kreise für die Ausbildung des Keimszum Höchsten wirken, der nach Hebbels Ausspruch in jedemMenschenbild schlummert. So wird die Erzieherin zur Agitatorin.Für bessere Erziehung des Volkes, für bessere Erziehung desMenschen agitiert im Grunde ihr ganzes Lebenswerk. Was siennterErziehung" versteht, das ist aber freilich das Höchste: Aus-bildung aller im Menschen schlummernden Kräfte zur Harmonie.Und deshalb ist dieser Erziehungsroman poetisch auch in seinerinneren Form, was er bei Gottfried Keller nicht immer ist. FrauRegel Amrains Jüngster wird zum braven Bürger erzogen; dasist erbaulich. Das Gemeindekind erzieht sich selbst zu einer groß-denkenden Seele; das ist poetisch.

Man vergleiche nur die NovelleDie Unverstandene auf demDorfe" übrigens keine ihrer besten mit Otto Ludwigs Heiterethei". Das Hauptmotiv ist das gleiche: eine übermütigeSchönheit wird dadurch gebändigt, daß ein rechter Mann ihr denMeister zeigt. Aber bei dem Thüringer steht die Scene, in derdie Heiterethei im vollen Glänze ihrer Kraft über die Mannsbildertriumphiert, am höchsten; bei der Österreicherin gipfelt die Er-zählung in der Schlußscene, in der Marie ihre angeborene Schön-heit durch die Anmut ihrer schamhaften Selbstüberwindung nochsteigert. Bei Ludwig ist die moralische Schönheit von der ästhetischengetrennt: bei Marie v. Ebner fallen sie zusammen. Das macht dieeigenartige Größe ihrer Pädagogischen Tendenz aus. Jene gedrücktenKnechtsgestalten, die so kläglich vorbeischleichen (Er laßt die Handküssen"), die den Heroismus eines Einzelnen aus ihrer Mitte sojämmerlich entwürdigen (Jakob Szela"), sie verletzen auch ihr Auge,wie ihre Seele. Es jammert sie des Volkes. Denn sie liebt dasVolk, warm, treu; sie liebt, wie Goethe,die Klasse von Menschen,die man die niedere nennt, die aber gewiß vor Gott die höchste ist".Bisweilen treibt die Vorliebe für die einfache Schönheit des Land-