602
18S0—1860,
lebens die Aristokratin bis in die Nähe Tolstois : in der Stilleeines Bauerngehöftes findet ein schwärmerischer Agitator den Frieden(„Der Kreisphysikus"); öfter aber erscheint doch der geistig kultiviertefeinsinnige Mann als die Blüte der Menschheit. Nur darf er kein„Übermensch" sein wollen: starke Selbstbescheidung, männliche Herr-schaft über die eigenen Begierden bei Kraft und Klarheit — dasist das Höchste, das ist das Bild, an dem sie nicht müde wird sichzu erfreuen („Der gute Mond", „Oversberg", „Rittmeister Brand";anch „Boöena", „Wieder die Alte" u. a.). Nie hat sie eine groß-artigere Figur gezeichnet, als jene herbe Realistin, die BaroninKaroline („Wieder die Alte"), die das Leben höchste Energie derSeele gelehrt hat, ohne die angeborene Kraft der Liebe zn ersticken.
Deshalb kann auch für sie nicht, wie für ihre Lehrer AdalbcrtStifter nnd Anastasius Grün , die Natur in ihrer Stille das Höchstesein. Sie bleibt doch gebunden, wo der Menschengeist srei wird; sie istin all ihrem Glanz und Sonnenschein doch nur „Schmerz in Schön-heitshülle". Wohl weiß Marie v. Ebner die Ruhe des Waldes schönzu schildern; aber stärker zieht es sie zu der Unruhe der Menschen-welt. Schon diese, psychologische Ursache verbietet der ernstenKünstlerin den einfachen Naturalismus. „Wenn man ein Seherist", heißt es in ihren unvergleichlichen „Aphorismen" (1880),„braucht man kein Beobachter zu sein." Sie ist Seherin, in deniSinne der jungen Romantik vor allem, der deutliches Erschauenverlangt. Man erstaunt oft über die Feinheit der Beobachtungen.„Ihr Profil war mir zugewandt; ich sah, daß ihr feiner Nasen-flügel bebte, nnd daß sich über ihre Wange ein Heller Streifen zog.Blonde, hochgefürbte Menschen erbleichen so." Natürlich muß sie daszuerst einmal gesehen haben; aber einmal vielleicht — dann hattesie den Zusammenhang erfaßt, Seherin anch hierin, und bedürftekeiner weitereu Notizblätter. „Niemand ist so beflissen, immer neueEindrücke zu sammeln, wie der, der die alten nicht zu verarbeitenversteht." Hierin ist sie Meister. Der alte Eindruck genügt, umdie künftigen zn ersetzen. Weil sie ihre Figuren mit der ganzenanschaueuden Liebe der Künstlerin und der Pädagogin umfaßt,darum weiß sie ohne Skizzen und Notizen „auss Haar genau, wiesie sich in einer bestimmten Lage benommen und ausgedrückt habeumüssen". „Bis über die Ohren" steckt sie in der Haut des leib-eigenen Knechtes Mischka: „ich sehe ihn, wie er sich windet in Angstund Verlegenheit, einen scheuen Blick auf Bater und Mutter wirft . .,