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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
Seite
606
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LOS 18501860,

umgedichtet, den Mann von starker Eigenart zu einer archaischlächelnden Kultfigur gemacht. Der ausgesprochen atheistische AutorderKinder der Welt", der jederzeit unerschrocken sür Freiheit undFortschritt eintretende Sachwalter von Anzengrubers Maximilians-orden und Heiues Denkmal sollte einromantischer Reaktionär" sein;der Dichter, der oft mit einer fast antiken Unbefangenheit, gelegentlichaber auch mit fastdekadenter" schwüler Sinnlichkeit erotischeThemata behandelt, ward als einAutor für höhere Töchterschulen"ausgegeben. Vor allem diente aber feinefchöne Sprache"ein Lob, das er längst nicht mehr vertragen kann als Waffe:sie sollte wie leerer Flitter innere Hohlheit verkleiden, und Heyse ,der eher zu sehr zugespitzten psychologischen Problemen nachjagt(Geteiltes Herz"), durfte ihretwillenein Massenfabrikant elegantgefertigter, aber konventioneller Liebesgeschichten" genannt werden.Es ist Zeit, daß diese ungerechte Verkennung aushöre. Es ge-schieht damit ein größeres Unrecht als mit der radikalen AblehnungGeibels. Denn Emanuel Geibel war wirklich nur eiu mittleresTalent, und seine Dichtung, deren momentane, pädagogische Be-deutung nicht gering war, hat dauernde Beachtung nur in wenigenProben zu beanspruchen. Paul Heyse aber ist nicht nur an sicheine ungleich bedeutendere Persönlichkeit, sondern er hat auch alsmikrokosmisches Abbild all der Tendenzen, die seine Zeit bewegten,eine kulturhistorische Wichtigkeit wie kaum ein zweiter Autor dieserEpoche.

In der Periode unbedingten Anschwärmens bezeichnete manPaul Heyse wohl auch als denErben Goethes". Mit Recht hatein neuerer Kritiker deu Titel eingeschränkt: nur ein Legat desGroßen habe Heyse gewonnen; und sicherlich unter viele Erbenist jene große Erbschaft verteilt: Gottfried Keller und Mariev. Ebner-Escheubach und Hcrman Grimm, gehören sie nicht alledazu? Aber das war richtig heransgefühlt, daß Heyse der typischeErbe" ist. Er ist kein Mann des harten Erwerbs wie FriedrichHebbel und Otto Ludwig ; er ist auch kein Mann, der sich mitkleinen: Gut spärlich durchhilst wie die Nekonvalescenzpoeteu. EinErbe ist er, hineingeboren in geistigen Überfluß, der nie nötig hatte,zu sparen, nnd selten, zu erwerben. Fast zu leicht ward ihm derWeg zu den Sternen gemacht. Schon die glückliche Blutmischung,die die ernste Art des gelehrten Sprachforschers K. W. L. Heysemit semitischem Wesen von der Mutter her kreuzte, ist ihm zu gute