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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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Heuses Lyrik.

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Bon Sünden loszusprechen,

Die unser Herz vom Sittenzwang befreit,

Das ist und nennt ihr's auch Verbrechen

Poetische Gerechtigkeit.

Die innige Beschäftigung mit der Volks- und Kunstpoesievieler Nationen trug ihre Früchte, uud Heyses Lyrik ward einfarbenprächtiges Blumenbeet. Weicher, einschmeichelnder als Leut-holds Verse, erinnern die seinen doch in ihrer romanischen Form-sicherheit an die Strophen des unglücklichen Schweizers; neu aberwar die Grazie, die Eleganz der Rundung. Während er dasnaive Lied Goethes, Eichendorffs, Mörikes bewunderte, verrät dochdas seine Kultur in jeder Linie, jeder Wendung freilich feinste,fast bis zur Natürlichkeit emporgelüuterte Kultur. Der Eigenartentbehrt diese reiche Lyrik dennoch nicht. Feinsinnig hat WillyPastor bemerkt, daß die ersten künstlerischen Eindrücke bei Heysednrchs Auge gehen, beim Nomantiker aber durchs Ohr. Wie seilteNovellistik ganz dnrch die vorschwebenden Umrisse bestimmt ist, soist auch sein lyrisches Gedicht mehr eine zarte Nachzeichnung vonGesichtseindrücken als unmittelbare Wiedergabe unklarer Sinnes-wahrnehmungen; und gerade die besten sind am wenigsten reinlyrischer Natur: es sind Porträts wie dieDichterprofile" und dieStädtebilder", oder es sind kondensierte Novellen wie dieJudithdes Cristofano Allori" oder der prachtvolleOdysseus ". Ein reinesVersinken in die Stimmung, wie es Lenan oder Mörike gelingt,ist ihm nicht gegeben; er bleibt sein eigener Zuschauer. Aber erist es mit einer gewissen Unschuld. Er freut sich an der Grazieseiner Bewegnugen; aber er kokettiert nicht. Und in dieser stillenFreude an der eigenen Kunst, in deren melodischen Wogen derSchwimmer sich wonnig wiegt, in der klaren Wiedergabe der durcheine elegante Nachzeichnung erweckten behaglichen Künstlerstimmnngliegt der eigenartige Reiz seiner Lyrik. Geibel kommt noch amnächsten; aber der ist immer Priester. Heyse ist allezeit Künstler von wie viel deutschen Lyrikern kann man das behaupten?

Den Anfängen in Märchen und Liedern folgten rasch Dramen;eineFrancesea da Rimini" (1850) war Heyses offizieller Erst-ling. Bald trat der erste Band derNovellen" (1855) hervorund brachte bereits jenes glänzende kleine Meisterwerk, das Heysevielleicht nie übertroffen hat:L'Arrabiata".

In den Novellen vor allem hat Georg Brandes (in seinem

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