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1850—1860.
glänzenden Essay über Heyse) die Eigenart seines dichterischen Pro-zesses erkannt:
Zu allererst hat er, nach meiner Auffassung, ganz wie der Bildhaueroder der Gestaltenmaler, sobald er seine Augen schloß, seinen Gesichtskreismit Konturen und Profilen bevölkert gesehen. Schöne äußere Formen undBewegungen, die Haltung eines anmutigen Kopfes, eine reizende Eigen-tümlichkeit in Stellung oder Gang haben ihn auf ganz dieselbe Weise be-schäftigt, wie sie den bildenden Künstler erfüllen ... Es sind solche Bilder,plastische Figuren, einfache malerische Situationen, mit denen die PhantasieHcyscs von Ansang an operiert hat, und die ihren Ausgangspunkt bilden.
Brandes setzt aber selbst hinzu, daß noch ein Zweites die Eigen-art der Heyseschen Novelle bestimmt: die Fähigkeit, die Geschichte„so zn sagen harmonisch zu rhythmisieren". Die erschaute Gestaltkönnte schön, in sich abgerundet sein, und die Geschichte, die derVerfasser von ihrer Erscheinung abliest, dennoch nnrhythmisch; aberHeyses harmonische Natur hält die ganze Erzählung im Stil dieserwohlgeformten Linien. Das macht ihren eigentümlichen Reiz aus— nicht die „schöne Sprache". Heyses Sprache zeichnet sich garnicht durch so ganz besonderen Wohlklang aus, wie etwa Hölder-lins; selbst in der Lyrik ist es vielmehr der Zanber rhythmischerZeichnung als eigentlich melodische Tonabstufnng, was uns bestrickt.
Diese Eigenheit trifft aus das glücklichste mit inneren For-derungen jener Kunstgattung zusammen. Heyse hat sich auchtheoretisch mit der Novelle beschäftigt. Mit Hermann Kurz —wieder einem seiner zahlreichen persönlichen Freunde — hat erden „Deutschen Novellenschatz " (seit 1870) herausgegeben, einemustergültige Sammlung, von knappen Charakteristiken begleitet.In der Einleitnng entwickelt er seine auf umfassende Kenntnis derWeltlitteratur gestützte Lehre von der Novelle und fordert von ihr„eine starke Silhouette": einen Grundriß, der sich durch irgendeine auffällige Einzelheit sofort dem Gedächtnis einprägt. SolcheEigenheit schafft aber seiner Novelle zwanglos die als Keim an-geschaute plastische Situation: „in ,LÄrrabiata< ist es der Biß indie Haud, im Mld der Mutter' die Entführung, im ,Vetter Gabrielder aus dem Briefsteller für Liebende abgeschriebene Brief". Eineeinzelne, deutlich erblickte und durch ihre Eigenart fesselnde Situa-tion ist es immer — nicht eine Entwickelung; und deshalb istHeyse Meister der Novelle, und deshalb mißlingt ihm der Roman.
Auch sür die Novelle sehlt es nicht an Gefahren. Er magallzu liebevoll in der erwählten plastischen Gruppe, in ihren Ans-