Der Konflikt,
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„die Wirklichkeit zur Dichtung wird, daß wir den Kampf gewaltigerNaturen um ein bedeutend Ziel vor Augen sehen".
Auch der Nerfassungskonflikt in Preußen , der so lange dieSinne der ganzen politischen Welt hypnotisierte, gehört zu denKundgebungen einer neu erwachten Lust am Kampf, am öffent-lichen Leben, an gemeinsamer Bethätigung. Nicht liberale Kurz-sichtigkeit und nicht konservative Provokation allein erklären dieHärte dieses leidenschaftlichen Ringens: zu Grunde lag das tapfereErwachen der Besten aus der dumpfen Verzweiflung jener „ver-hängnisvollen Selbstverachtung". Idealismus, Patriotismus, auf-opfernde Hingebung für ihre Sache sollte man dem Abgeordneten-haus der Konfliktszeit so wenig absprechen wie den beiden großenMinistern Bismarck und Noon. Und in diesem wilden Kampffühlten alle, es handele sich um Leben oder Tod. Deshalb er-wuchs in diesem Ringen eine neue parlamentarische Beredsamkeit.Nicht mehr galt, was Auerbach von Simson gesagt hatte: er redeTalare; die pomphafte, von romanischer Art beeinflußte, schwung-volle Rede der Paulskirche wich scharfer, schneidender, in das Wortdes Gegners sich spitzig einbohrender Sprechweise. In diesem Kampfmit würdigen Gegnern wuchs Bismarck erst ganz zu dem großenMeister des Wortes heran. Seine großen Perspektiven, sein Talentdes Schlagworts, seine glänzend originellen Vergleiche erreichteweder Albrecht v. Noon (1803 — 1879) mit seiner scharfen,kalten, militärisch bestimmten Sprache, noch die Redner der Oppo-sition: Schulze-Delitzsch (1808—1883) mit seiner derb zugreifen-den, volkstümlichen Art, Karl Twesten (1820—1870), ein Meisterdes Appells an das Gesamtgefühl der Hörer; die Veteranen Waldeckund Georg v. Vincke mit ihrem Pathos, die gelehrten EtatsrednerGneift und Virchow mit ihrer auch in der Erbitterung kühlenSachlichkeit uoch weniger. Aber überall fühlte man, daß es diesenMännern tiefster Ernst war" sie mieden die Phrase, die draußen imLand und zumal auf den berühmten Schützen- und Sängerfesttagenfreilich üppig wucherte. Doch auch iu dieser breiteren nnd deshalbeben gefährlicheren Beredsamkeit wuchsen ans dem neu gestiftetenNationalverein Meister der parlamentarischen Rede hervor wie diebeiden Hannoveraner Rudolf v. Bennigsen (geb. 1824) undJohannes Miquel (geb. 1829).
Auch der Beredsamkeit der Kanzel wuchsen in dem Sturm derallgemeinen Erregung neue Flügel. Rudolf Kögel (1829—1886),
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