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1860-1870.
Offizier geworden, wie sein Bruder, der vor Sedan fiel. Da ver-schloß dem achtjährigen Knaben eine von den Masern zurückgebliebeneSchwerhörigkeit für immer die militärische Laufbahn. Er hat esvielleicht nie ganz überwunden. In jenem machtvollen Essay überHeinrich v. Kleist, der nach Julian Schmidts beredten Worten dasmeiste that, um dem großen Tragiker eine zu spät kommende Volks-tümlichkeit zu sichern, ruft er aus: „Wie viele flattern dahin ihrLebenlang, wie mit gelähmter Schwinge, weil ein Körpergebrechen,ein alberner Znfall sie ausschließt von dem Wirkungskreise, in demsie ihr Höchstes, ihr Eigenstes leisten könnten". Feinsinnig hatPaul Bailleu , dem wir die tiefgehendste Charakteristik Treitschkesverdanken, diesen Stoßseufzer als ein Geständnis des thatenlustigenMannes gedeutet. Immerhin — stark und gefaßt wußte schon derKnabe die schwere Probe so tapfer zu bestehen, wie der gereifteDühring die der Erblindung. Seine Lebensphilosophie zog geradeans dieser Erfahrnng die besten Safte: „Das einzige praktischeResultat, das ich daraus ziehen kann, ist allemal: werde ein rechttüchtiger Mensch und ersetze durch den Wert, was dir die Naturversagt! Und dies ist eine von den Lehren, die sich nur imSchmerze lernen lassen."
So ward er, wie Dühring, im Unglück zum Kämpfer ge-schmiedet; so ward er durch die Not dazu gepreßt, in einer weichlichverzagenden Zeit dem Pessimismus aufs Haupt zu treten. „DennKampfes würdig ist des Lebens Schöne!", wie es in einem seinerGedichte heißt. Und diesen Kampf erachtete er, wie Dühring, alsernste Mannespflicht. „Mein ganzes Wesen widerstrebt der Schopen-hauerschen Junggesellenphilosophie und der thörichten Lehre vomGlück des einsamen Weisen. Meine Lebensweisheit lautet, daß wirarmen Kreaturen ein wenig Glück brauchen, um sittlich und tüchtigzu leben." Freilich aber konnte der große Gewinn dieser mutigenLebensanschauung nicht ohne Opfer erkauft werden. Die Unfähig-keit, einer lebhaften Diskussion zu folgen, konnte dem zukünftigenPolitiker nicht ungefährlich bleiben. Die Schroffheit seiner Polemik,die schneidende Abweisung jeder von ihm nicht, manchmal auch nuruicht mehr geteilten Meinung hat gewiß zum Teil hier ihre Wurzel;denn eigentlich war Treitschke eine liebevolle, in der Freundschastweiche Natur. Aber jene körperliche Vereinsamung zwang ihn überdie angestammte litterarische Kampflust seiner Landsleute Thomasius,Lessing, Richard Wagner hinaus: er gewöhnte es sich an, auch die