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1860—1870.
großen starken Mann mit dem entschieden slavischen Gesichtsschnittsah, der mußte auf den ersten Blick zweierlei diesem breiten, schweren,bärtigen Gesicht ablesen: Güte und Ehrlichkeit. Wer ihn nicht sah,der mochte ihm beides absprechend Aber die Zuhörer konnten sichnicht täuschen. Sie mußten erkennen, daß die Leidenschaft desHasses bei ihm nur entsprang aus der glühenden Vaterlandsliebe,die in jedem Moment der deutschen Geschichte den jeweiligen Feindder „guten Sache" niederwerfen, erwürgen, ersticken mußte. Siemußten erkennen, daß Treitschke in jedem Augenblick vollkommenüberzeugt war von dem, was er sagte. Man hat ihm Wider-sprüche vorgeworfen, Sophismen, selbst Entstellungen — alles mitvollem Recht. Vielleicht am stärksten leiden darunter die sonstso meisterlich hingeschriebenen litterarhistorischen Partien, in deueuTreitschke, aus dem Gedächtnis citierend, besonders dem JungeuDeutschland gröblich unrecht that, aber auch sonst Persönlichkeiten,die unter irgend eine Kollektiv-Antipathie fielen, wie Rahel oderBerthold Auerbach , Börne oder D. Fr. Strauß, auf das ungerechtestebehandelt oder gar mißhandelt hat. Aber auch in rein historischenErzählungen begegnet es ihm, daß das allgemeine Bild, das ihmvorschwebt, vorschnell die Wirklichkeit verdrängt und er, wie er inder Jugend Riehl spottend vorwarf, historische Gestalten und Scenenmehr aus der Intuition heraus zeichnet als aus wirklichem Studium.Nicht einmal das wollen wir bestreiten, daß er der Neigung, vonden Gegnern das Schlimmste zu glauben, wenigstens zuletzt miteinem gewissen Behagen nachgab. Daß er in bestimmten Fällennicht objektiv urteilen konnte, wußte er; es war Pflicht des Histo-rikers, hier besonders sorgfältig zu prüfen. Das that er nicht;auch hier ließ er der freudigen Kampfstimmung die Zügel schießenund berauschte sich an seinem Haß. Aber eben weil ihn seineLeidenschaften berauschten, darf man ihm Unredlichkeit niemals vor-werfen. Er hätte sich in jedem Moment für das, was er fprach,zum Blutzeugen angeboten. Das fühlten seine Zuhörer. Hattensie den seltsam vibrierenden Klang seiner Stimme nach den erstenMinuten sich angeeignet, so erschien bald diese sonderbar zerhackteRede mit den tiefen Atemzügen der breiten Brust fast als die alleinnatürliche Redeweise — so nahm sie den Hörer gefangen. Nichtanders war es mit dem Inhalt. Nichts falscher, als Treitschke „Freude am Paradoxen " vorzuwerfen, weil er etwa Friedrich Wil-helm III. als einen Heros darstellte. Treitschke war immer über-