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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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18601870,

nennen, sondern Fortdichter. Wie er etwa die Sage von demGiftmädchen, dessen Berührung tötet, aus dem Orient dnrch dieMandragola" Macchiavellis zu lebender Bolkssage verfolgt, soläßt er auch WolframsParcival " (1382), Gottfried von Straß-burgsTristan" (1877),Hugdietrichs Brautfahrt" (1863, viel-leicht die vollkommenste seiner Leistungen) gleichsam fortleben bisauf unsere Zeit. Er modernisiert sie nicht etwa, sondern er giebtsie in der Form, die sie heut hätten, wenn ihnen ein ununter-brochenes Weiterleben vergönnt gewesen wäre. Nicht auf einmalhat er diese Höhe des Erneuens erstiegen; seine älteren Über-setzungen (Das Rolandslied ", 1861) hatten noch manches von derunfreien Technik Karl Simrocks . Wenn aber zwanzig Jahrespäter Hertz in seinem wundervollenSpielmannsbuch" (1886)altfranzösische Reimerzühlnngen so schlicht und wahr, so ergreifendund doch nicht ohne einen leisen Oberton von Ironie, der sichwie eine schimmernde Patina auf das alte Erz dieser prächtigenMedaillen legt, so formvollendet und so sicher nachfühlend wieder-giebt, dann bleibt alles Übersetzen im vulgären Sinne des Wortesweit hinter ihm. Der alte Fahrende des Mittelalters lebt in ihmwirklich wieder auf und erzählt von dem Ritter mit dem Füß-lein und von dem Tänzer unserer lieben Frau, was seine Vor-fahren ihm überliefert haben; kein fremder Ton stört die Reinheitder Erneuerung.

Dem Offizier und dem Professor gesellt sich eiu Laudmann,Christian Wagner (geb. 1835), der Bauer und Dichter zu Warm-brunn in Schwaben, über den uns neuerdings Weltrich ein liebevollanteilnehmendes, nur gar zu breites Buch gegeben hat. Auch er istein Reflexionslyriker, auch er voll elegischer Stimmung, auch er,wie sein Landsmann Hertz, ein Feind der offiziellen Kirche. Mitdem Glauben an die Seelenwandernng, mit dem Hertz und Wil -brandt doch nnr (wie einst Lessing ) spielen, macht er Ernst,nnd die Kraft, mit der er die Idee von der Wanderung der Mo-naden durch tausend Gestaltungen erfaßt, hilft ihm zu ergreifendpoetischem Ausdruck:

Kannst du wissen, ob von deinem Hauche

Nicht Atome sind am Noscnstrauche?

Ob die Wonnen, die dahin gezogen.

Nicht als Roslein wieder angeflogen?

Ob dein einstig Kindesatemholen

Dich nicht grüßt im Dust der Nachtviolen?