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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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Eduard Grisebcich,

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Sinnlichkeit und groß in ihrem Streben. Eine solche Natur istauch der Dichter selbst. Eine glüheude Sinnlichkeit, wie sie sozügellos noch kaum bei uns vernommen war, spricht ans denflüssigen Rhythmen desNeuen Tanhünser" (1869), dem deroftbedenkliche" Inhalt wohl nicht minder als die au Heine ge-schulte glänzende Form zu fast zwanzig Auflagen verHals. DerKampf zwischen der Sehnsucht uach dem Ideal und der leidenschaft-lichen Begierde nach derWollust der Kreaturen" war von der Tan-hänsersage des deutschen Mittelalters in tiefsinniger Weise symbolisiertworden; Heinrich Heiue und Richard Wagner hatten den Stoff schonmodernisiert. Nun griff ihn dieser Pessimist auf, der als deutscherKonsul durch die Welt bis nach China gezogen war, überall, wie seinAmtsgenosse Rudolf Lindau , aufmerksam achtend auf die unter allerBuntheit der Kostüme so wesentlich gleichartige Menschennatnr; dereinen Trost sür das vergängliche Scheinglück dieser Welt nur fand,indem er zu Schopenhauer pilgerte als zu feinem Papst und inder Lehre von der Nichtigkeit des Daseins Bnße that. Und daschlng sein Wanderstab blütenreich aus in den bestrickenden, baldso süßen und bald so bitteren Versen seines Neuen Tanhäuser. Dann aber verging ein halbes Jahrzehnt. Er hatte inzwischendie Litteratur von vor hundert Jahren eifrig studiert und an Lichten-bergs Tiefe, an Blumauers Sinnlichkeit, an Brentanos Leiden-schaftlichkeit, an Heines Symbolik (etwa inBimini") den Anklangverwandter Saiten der eigenen Seele erklingen lassen. Er hobHeines Jugendprogramm heraus:Etwas, das ein individuell Ge-schehenes und zugleich eiu Allgemeines, ein Weltgeschichtliches istund das sich klar in mir abspiegelt, einfach, absichtslos und episch-parteilos zurückgeben im Gedichte". Es war schon nichts Kleines,in jener Zeit, die das im tiefsten Sinne Individuelle fast so all-gemein verlernt hatte wie das im poetischen Sinne Weltgeschichtliche,und die sich so gern in absichtsvoller epischer Produktion herum-trieb, auf diese geniale Prophezeiung einer neuen Poesie hinzu-weisen; hätte Grisebach sie auch selbst erfüllen können, so wäre ergrößer als eiuer seiner Zeitgenossen. Aberabsichtslos" undparteilos" war die Dichtung nicht, die nach dem großen Kriegeund unter dem Eindruck des nun erwachtenKulturkampfes" ent-stand:Tanhäuser in Rom" (1875). Schilderte das ersteBuch eine Fülle von Liebesabenteuern, so ward nun der Held intieferer psychologischer Knnst durch ein Erlebnis hindnrchgeführt.