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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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18601870,

Die Unmöglichkeit, große Eindrücke in gleicher Gewalt festzuhalten,die Jda Hahn-Hahn für unsere Litteratur gleichsam entdeckte unddie heute den Grnndton aller erotischen Epik bildet, ist das Leit-motiv auch dieser süß-leidenschaftlichen Dichtung:

Und Tage auf Tage und Wochen verfließenEr lag noch immer zu ihren Füßen,Er hoffte noch immer, es kehre zurückDer erste Tag, daS erste Glück,

Bei Venus, bei der Madonna, bei Pallas-Minerva sucht ervergeblich Heil, bis er endlich, von all der Qual der Liebe durchihr Übermaß geheilt, in sein Vaterland zurückkehrt, entschlossen,nun thätig zu sein für Kaiser und Reich. Die Heilung kommtplötzlich und gewaltsam; aber gerade weil sie ein wenig äußerlichaufgezwungen ist, wirkt sie um so mehr symptomatisch für die nunvollendete Abkehr von der egoistischen exklusiv-raffinierten Poesiezu der neuen, neueu Idealen dienenden Dichtung.

Ada Christen (eigentlich Christiane Breden; geb. 1844 inWien ) ist in unserem Jahrhundert die erste Dichterin, die die wirk-lichen Leidenserfahrungen ihres wechselvollen Lebens mit rücksichts-loser Offenheit im Lied verkündete. Dieser Ton der erlebten Wirk-lichkeit gab ihrenLiedern einer Verlorenen" (1869) die Kraft,in den Materialismus der Zeit wie ein weithin vernehmlicher Not-schrei zu gellen. Der Realismus des proletarischen Elends setztein diesen Versen schreiend, heulend, aber auch mit ersticktem Weinenein und beschämte die Salonpoesie:

All euer girrendes HerzeleidThut lange nicht so weh,Wie Winterkälte im dünnen Kleid,Die bloßen Füße im Schnee.All eure romantische SeelennotSchafft nicht so harte Pein,Wie ohne Dach und ohne BrotSich betten auf einen Stein.

Die furchtbarste Enttäuschung läßt die Tochter der gutbürger-lichen, verarmten, verelendeten Familie Töne finden, denen alleReminiscenzen an Heine nichts von ihrer Originalität raubenkönnen. Und dann schreibt sie Novellen fast im Stil Vacanos,mit grellem Nebeneinander von Prunk und Jammer,wenn z. B.in der Skizze ,Der Vagabund^ ein verkommener Bettler vor demSchloßfenster seiner überaus reich und vornehm gewordenen Tochter