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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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18601870.

etwas Opernhaftes, Romantisches mitgegeben. Wo sonst die altevolkstümliche, schon in der antiken Komödie unvermeidliche Ver-bindung mit der Musik zu der Einlage musikalisch dürftigerCouplets herabgesunken war, da besaßen Raimund und sogarNestroy noch eine lebendige Empfindnng von der idealisierendenKraft musikalischer Beigaben. Auch das durfte Anzengruber erben.Die große Katastrophe imMeineidbauer " hat nicht bloß Ge-witter, Sturm, Donner und Blitz, dunkle vorbeiziehende Gestaltenim Hintergrund, sondern auch direkte Musikbegleitung: ein Furiosoals der Vater auf den Sohu schießt, ein Tremolo, als dieser vonder Brücke stürzt, zum Schluß eine kurze Melodie indüstererGebetform". Auch hier, wie bei Richard Waguer, eiue Teudenzauf dasGesamtkunstwerk": derFreischütz" mit der Wolfsschluchthat so gut wie Geßlers Tod mit dem Gesang der BarmherzigenBrüder unter den Vorfahren des neuen Volksstückes gestanden.

Denn was hülfe all dies Anknüpfen an gute und wenigergute Tradition, wenn Anzengrnbers Drama nicht trotz alledem etwasNeues wäre? Er hat sich mit der ganzen tapfer zugreifenden Energiedes rechten Volksdichters alle Vorarbeiten zu nutze gemacht. Erkennt keine falsche Vornehmheit. Er braucht, wie Bettel heim hervor-hebt, grobe Mittel für den Massengeschmack, so sicher wie diefeinsten psychologischen Abgründe der Menschennatur aufdeckendeund erhetleude Züge. Dazu hatte er auch keine theoretischen Be-trachtungen nötig: diese Effekte gefielen ihm selbst; eine gewisseBrutalität der Wirkung verschmäht er so wenig wie zuweilenSchiller. Er vergriff sich viel eher, wenn er fein sein wollte.Diemeisten seiner Weltkinder undAristokraten", sagt derselbe durch-aus wohlwollende Beobachter,sprechen wie Vorstädter, die sichGewalt anthun, um gespreizt und unsicher .hochdeutsch' zu redeu:mitunter geradezu in dem überschraubten, modernen Ton des Lokal-romans." Aber wo er die Sprache des Volkes redet, da vergreifter sich nie da ist er ein Neuerer, der die alte Technik voll-kommen beherrscht und ihr neuen Geist einflößt.

Als Dichter kann sich Anzengruber mit dem größten seinerVorgänger, mit Raimund, nicht messen. Die wunderbare Gabemärchenhafter Erfindung, der Reiz des lyrischen Ausdrucks, derpoetische Ausklaug ist ihm versagt. Aber wenn er die Feen unddie Zauberer uud die Genieu nicht kennt, so kennt er dafür umso genauer die Menschen. Die psychologische Vertiefung hat erst