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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
Seite
673
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Anzengruber und das Lolksstück. 673

Anzengruber in das Volksstück gebracht. Ansätze wieder zeigte dasalte Lokalstück in mancher feinen Einzelstudie des genialen BrnderLiederlich (Der Datterich") oder anderer, in uralter Tradition vonder Farce desNaltrs ?iz,t!>eliu" im Mittelalter her vorbereiteterTypen. Jede Figur mit voller Lebenswahrheit auszustatten, allebequemen Hilfsmittel konventioneller Zeichnung herauszuwerfen, alleöden Stellen" mit Wahrheit zu überdecken das hat von allenMeistern des Volksstücks nur Ludwig Anzengruber verstanden.

Dazu das andere, das doch erst in zweiter Linie steht: dieenergische Hinwendung zu Zeitproblemen. Sie kann zu weit gehen:derPfarrer von Kirchfeld" hat mehr vomUriel Acosta ", alswir heut noch vertragen; und selbst das meisterlicheVierte Gebot"trägt die zeitgemäße Diskussion über das Recht der Eltern zu un-verarbeitet auf die Bühne. Aber wo sie als lebendiger Pulsschlagdas ganze Stück durchdringt, wie in der in jedem Sinne aristo-phanischen Komödie von denKreuzelschreibern", da sind wahrlichallegelehrten Aufwärmungen des Aristophanes " bei Platen undPrutz unendlich übertroffen.

Im Lustspiel wurzelt durchaus Anzengrubers dramatische Be-gabung, oder vielmehr in der Komödie von uralt-volkstümlichem Ge-präge. Auf der vollen, mitfühlenden Freude an der Mannigfaltigkeitmenschlicher Charaktere beruht alle echte Komödie, beruhen Anzen-grubers Meisterwerke:Die Kreuzelschreiber" (1872),DerGewissenswurm " (1875),Der Doppelselbstmord" (1875),Das Jungferngift" (1878). In der glänzenden politisch-un-politischen Komödie von den Kreuzelschreibern siegt die Menschen-liebe und der gesunde Menschenverstand des Ärmsten und Ver-achtetsten im Dorfe, des Steinklopferhans, über den schwachherzigenTrotz der Männer und die herrschsüchtige Bigotterie der Frauen.In diesem stärksten unter Anzeugrubers Volksstücken lebt etwas vonder souveränen Ironie Fontanes ; und damit wirkt er stärker als mitdem Pathos des antiklerikalenPfarrers von Kirchfeld". Plötzlich,scheinbar wider den Willen des Dichters, bricht doch auch hier dieTendenz durch, wenn der Gelbhofbauer, von seinem hübschenFrauchen durch die geistliche Agitation getrennt, wütend ausruft:Ich möchte doch wissen, wie s' dazu kämen, daß sie sich zwischenMann und Weib einmischen!" Auch fehlt die Tragik des politisch-religiösen Kampfes nicht: sie ist durch die erschütternde Episode desalteu Brenninger fast zn stark vertreten. Aber ein gutmütiges

Meyer, Litteratur, 43