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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
Seite
677
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Anzengrubcrs Trauerspiele. 677

Ich Hab's ja eh'nder g'wußt, du würd'st mich nich verlassen inderer Not!" Es ist aber nicht Gott, sondern der Tenfel ist es,der ihn auf Erden beschenkt, um seine Seele desto sicherer zugewinnen, und der ihm dann zuletzt durch den Mund deralten Muhme verkündet:Ich hab' dir's wohl sein lassen, damit'stdich nur noch mehr verblendst, 's Schlechteste is dir verwilligtword'n, weil ich woll'n hab', daß d' dich auch im Gebet versündigst. ."Wir besitzen nicht viel Charaktere in unserer dramatischen Litteratur,die an psychologischer Tiefe, an Rundheit, an sicherer Gegenwartdiesem Meineidbauer gleich kämen. Alle technischen Schwächen, wieseine überlange Beichte, die Farblosigkeit des braven Sohnes, dieendlosen Erzählungen in der Exposition, die gelegentlich zu absichtlichmelodramatischen Effekte verschwinden wie leichte Federchen vor derGewalt dieser Figur.

Ist derMeineidbauer", der seine Gewissensbedenken mit so-phistischem Selbstbetrug übertüncht, gewissermaßen das tragischeGegenstück zu dem von übertreibenden Gewissensbissen geplagtenHeld desGewissenswurms", so ist dasVierte Gebot" (1878)das tiefernste Gegenüber zu dem übermütigenDoppelselbstmord".Wiederholt hat der geborene Wiener sich mit der liebevoll gegen-ständlichen Schilderung heimatlicher Sittenzustände beschäftigt (AlteWiener" 1378;Aus'm gewohnten Gleis" 1879;Heimg'funden",ein gemütvolles Weihnachtsstück, 1887). Er liebte seine Wiener,wie Saar und Ada Christen nnd sogar der mürrische Grillparzersie liebten; aber er, der sich aus Zweifeln und Bedrängnis zumOptimismus durchgerungen hatte, kannte auch die Gefahr desWienerischen Optimismus, der von Zweifeln und Bedrängnis garnichts erst wissen will. In einer Zeit, in der es vor allem galt,stark zu sein, sah er seine Landsleute sich nur zu gern in behäbigerSchwäche gefallen. Die Alten machte er dafür verantwortlich, daßdie Jungen ins Unglück gerieten. Sie haben nicht mehr die Kraft,dem verderblich nachgiebigen Eigensinn der verblendeten Eltern eininneres Gegengewicht zu bieten, wie die fröhlichen Kinder Sentnersund Hauderers der trotzigen Berbohrtheit ihrer Väter. Eine Er-lösung von den verweichlichenden Eltern wäre ihre Pflicht; aberihnen ist es so behaglich im weichen Nest. So wird dasVierteGebot" ihnen zum Unheil. Tapfer wie gegen die Karikatur echterFrömmigkeit tritt der Dichter gegen das Zerrbild der Eltern- undKindesliebe auf. Man durfte dies fast überstreug moralisierende