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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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18601870.

erzählung. Die schönste Blüte treibt diese Kunst der Beobachtungund Darstellung in ein paar typischen Porträts von milder Ironie.Am höchsten steht wohl der unvergleichlicheSinnierer", der fastwie eine Parodie auf die philosophierenden Bauern bei Auerbach undbei Anzengruber wirkt: der dumme Kerl, der durch alberne Fragensein Lebensglück verscherzt und doch, von aller Welt gehänselt, indem stillen Gefühl seiner nachdenklichen Überlegenheit eine unzer-störbare Quelle der Befriedigung besitzt. Psychologisch noch meister-haster ist derMann, den Gott liebt", der unsaubere höckrige Altemit Gebetbuch und Rosenkranz als steten Begleitern, herzlos, un-sittlich, niedrig denkend, aber von stetem Glück gesegnet einbitteres Gegenstück zu den Idealbildern frommer Bauern in kleri-kalen Schriften. Die Märchen vermag ich nicht so hoch einzu-schätzen, kurze schwankartige wieMoorhofers Traum" ausgenommen;sie haben etwas Künstliches, Gesuchtes, womit man gerade den alsihren Erzähler auftretenden Steinklopferhans ungern in Verbindunggebracht sieht.

Aus solchen Einzelgeschichten von sonderbaren Erlebnissen undmerkwürdigen Menschen ist überall in der Weltlitteratnr der Romanhervorgewachsen, und auch bei Anzengruber wiederholt sich, wie beiGottfried Keller , diese typische Entwickelung. Wir verdanken ihrzwei Meisterwerke.Der Schandfleck", zuerst (1876) mit un-glücklichem Übergang ins großstädtische Gebiet, dann (1884), dnrchdas Verdienst des ratenden und helfenden Bolin als reiner Dorf-roman geschrieben, ist eine Geschichte mit glänzender Expositionund mächtig fortschreitender Handlung, die dennoch, etwa wie dasVierte Gebot", unter der zu stark betonten pädagogisch-epigram-matischen Tendenz leidet. DerSchandfleck", das uneheliche Kinddes armen Vaters, wird znm Segen für den, der nur vor dem Gesetzihr Vater ist, denn er hat die Tochter durch Liebe und Güte wirklichzu seinem Kinde gemacht, wie Nathan die Recha; ihr Bruder aber,der legitimierte Sohn des reichen Müllers, der sich des Kindeserst auf dem Totenbett erinnerte, geht in Verzweiflung und Elendunter. Bis dicht an die Grenze des Jncests wird die Fabel geführt,und grausig ist auch die Schilderung des furchtbaren Gewalt-menschen, des Leutenberger Urban; mit diesem Berserker hat derverlorene Florian einen entsetzlichen Kamps auszufechten, in demer füllt, aber nicht ohne vorher den Landschaden getötet zu haben.Es ist eine Schilderung, die an die stärksten Leistungen von Gott -