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helf erinnert, wogegen der König Lear auf dem Dorfe, der alteNeindorfer, den seine rechten Kinder mißhandeln und den nur der„Schandfleck" liebt und rettet, freilich weder an Shakespeare nochan Turgenjew gehalten werden darf. Prächtig ist die hier wieim „Sternsteinhof" ganz in Handlung aufgelöste Beschreibungeines großen Musterbauernhofs von fast homerischen Dimensionen:auch die Freude, die Anzengruber hier wie öfter (so im „Jungfern-gift") an der Schilderung eines reichen, ländlichen Besitztums hat,ist echt volkstümlich und bei ihm noch naiver als bei JeremiasGotthelf, Gottfried Keller, Berthold Auerbach .
Der „Sternsteinhof" (1883 — 1884) ist eigentlich nureine zum Roman ausgewachsene Charakterstudie; aber was istder „Don Quijote" auders? Kühn spielt der Dichter auch hiermit den landläufigen Anschauungen von gut und schlecht, inder realistischen Umwertung der Werte ein praktischer VorläuferNietzsches . Ein armes, aber bildschönes Mädchen hat den reichstenund bestgehalteuen Bauernhof der ganzen Gegend erblickt; seitdemkennt sie nur ein Ziel: dort Herrin werden. Rücksichtslos verfolgtsie ihren Weg; die Moral, das Herz spielen ihr niemals einenStreich. Und so wird sie die Bäuerin auf dem gesegneten Stern-steinhof. Nun aber ist in ihr keine Spur mehr von der kokettenBettlerin; ganz ist sie hereingewachsen in ihr selbstbereitetes Los,und der alte Bauer selbst, ihr Schwiegervater, der erst den Ein-dringling haßte, muß ihr Verbündeter werden, um den Glanz desHofes zu behaupten. Der Charakter der Heldin würde alleingenügen, um Anzengruber in die Reihe unserer größten Psychologen zustellen: so wahr ist er, so überzeugend, von jeder Konvention frei,und in all der rücksichtslosen Eigensucht steht diese Helena desDorfes in wahrhaft homerischer Größe vor uns, eine Gestalt, dieden Leser zu sich hinüberzwingt, wie den alten Bauer in der Ge-schichte. Der Stil, der im „Schandfleck" noch Ungleichheiten auswiesund öde Stellen mit mühsam nachflickendem Bericht, ist jetzt ganzdurchtränkt von epischer Sicherheit und Schlichtheit. Dies habenwir — aber wir lesen die „Martinsklause" von Ludwig Gang-hoser und lassen sie die sechste Auflage erreichen, wie wir seinen„Herrgottsschnitzer von Ammergau" (1880), diese Parodie der Volks-stücke Anzengrubers mit seinen groben Effekten, seiner hohlen Psycho-logie, seinen konventionellen Typen bejubeln und uns von jedem„bäurischen Wandertheater" vorspielen lassen!