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1860—1870.
Ein echter Volksdichter — daß er das war, macht AnzengrubersGröße aus. Kein zweiter Dichter unseres Jahrhunderts hat wie er diebreite, alte, echte Tradition volkstümlicher Erzählungs- und Vühnen-knnst zu erneuen gewußt. Seine großartige Einfachheit bei ver-blüffendem Reichtum der Erfiudung — iu dem einzig GottfriedKeller ihn übertrifft — seine tiefe Psychologie bei ungezwungener,oft selbst allzu lockerer Technik, seine erzieherische Tendenz, die ihnnie zu Tendenzlügen verleitet, und sein rücksichtsloser Realismus,der ein warmes Mitfühlen mit den Gestalten nirgends ausschließt— all dies verdankt er der liebevollen Hingabe an die volkstüm-liche Art. Verdankt er ihr — und doch zugleich auch nur sichselbst, seiner unvergleichlichen Begabung, das Älteste zu erneuen,zum ganz Modernen zu machen. Realist war er gewiß, und wares bewußt; aber nicht aus der Theorie heraus, soudern aus dempraktisch-empirischen Sinne des Mannes aus dem Volke. Nichtsschrieb er, was er nicht erfahren hatte, im Leben, am Leben. Undso ward der Polizeikanzlist, dem so viele unausgeführte Stücke imSchubfach moderten, der Reformator der deutschen Bühne undeiner der stärksten Erneuerer des Romans der Lebensbeobachtung.
Glücklicher in dem Wege zum Erfolg war der Mann, dessenName mit dem seinen in unzertrennlicher Verbindung fleht, fast wieSchillers neben Goethes Namen: Peter Rosegger (geb. in Krieg-lach in Steiermark 31. Juli 1843). Ein Glückskind ist er über-haupt, wenn er's auch nicht immer wahr haben will. Der Bauern-junge aus der Steiermark, eines kindlich frommen Mannes undeiner von einfacher Poesie erfüllten Mutter Sohn, kam fast nur zu-fällig zu dem ersten Unterricht, den ein von seinem Pfarrer als zufreisinnig verjagter Schullehrer ihm erteilte. Er las dann eifrig,was ihm in die Hände kam, während er als Schneidergesell inBauernhäusern arbeitete. Unreife Produkte seiner Muse schickte erdem liberalen Redakteur Adalbert Svoboda in Graz zu; diesergeist- und kenntnisreiche Mann entdeckte (1865) sofort in der„schlichten, ergreifenden Art des Erzählens, dem leidenschaftlichenTon der Gedichte eine kräftige, dichterische Begabung". Ihm ver-danken wir, daß dem jungen Talent überflüssige Irr- und Umwegeerspart blieben. In der Handelsakademie in Graz durfte er sichin freundlich zugestandener Ausnahmestellung ausbilden; und sobalder sie verließ, trat er mit seinem ersten Buch, einer Sammlungvon Dialektgedichten („Zither und Hackbrett" 1869) den Besitz jener