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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
Seite
687
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Osterreich und die neue Litteratur, gg?

Begabung dahin. Unt> überall duftet es nach den Blumender Heimat, überall weht die kräftige Luft, in der gesunde Naturengedeihen.

Man hat wiederholt prophezeit, das Heil der neueren deut-schen Litteratur solle von Österreich kommen. Hamerling solltedann der Messias sein; aber er war nicht einmal ein Johannes.Dann aber gab die Natur zwei seltene Talente, in denen die volks-tümliche Tradition endlich wieder zu Persönlicher Kunst wurde.Darin liegt die mächtige Bedeutung Anzengrubers und Roseggers .Anzengruber ist die bedeutendere Persönlichkeit, tiefer, origineller:Rosegger ist uoch leibhafterVolk", und seine Erzählungen sinddie Bürgschaft, daß, was den Deutschen jahrhundertelang ver-loren gegangen war: die Kunst der kunstlosen Erzählung, endlichwieder zu hoffnungsvoller Kraft erblüht ist. Das ist Österreichs größter Ruhm bei der Verjüngung unserer Litteratur: was sollman viel streiten, wer von jenen beiden mehrRealist", mehrmodern" sei? Wir freuen uns, daß wirzwei solche Kerle"haben!

Und wie die Litteratur, so sollte auch die Litteraturgeschichtevon Österreich her verjüngt werden. Wilhelm Scherer (18411886) aus Schönborn in Niederösterreich steht wie mit seinemGeburtsjahr auch mit seiner Art mitten inne zwischen den beidengroßen Kritikern dieser Epoche, Emil Zola (geb. 1840) undGeorg Brandes (geb. 1842). Das feurige, kampflustige Tempe-rament, die starke Beimischung politischer und aufklärerischer Ten-denzen teilt er mit beiden; darin ist er ein Genosse jener tapferenÜberwinder des müden Pessimismus, unter denen Treitschke ihmlange auch persönlich nahe stand. Er liebte es, kühn nach nnent-deckten Ländern anszufahren; eine ängstlich von Einzelheit zuEinzelheit fortspinnende Untersuchung verspottete er wohl alsKüstenschiffahrt", und gern wiederholte der begeisterte Schüler derstrengen Methodiker Karl Lachmann und Karl Müllenhoff dasWort des genialsten Germanisten, Jacob Grimms , daß man auchden Mut des Fehlens haben müsse. Der erstaunliche Umfaugseiner Kenntnisse, die Schärfe seines Blickes, vor allem eine selteneVirtuosität der Kombination ließen ihn oft auch, wo er am keckstendemgesicherten Stand der Wissenschaft" Vorgriff, das erkennen,was er noch nicht beweisen konnte. Und doch fühlte er selbst, daßGefahr auch iu seiner wissenschaftlichen Wagelust lag, in der ent-