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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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Wilhelm Scherer .

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Furcht, daß ihm dasden Genuß verderben" könnte. Im Gegen-teil; es steigerte ihm die Freude des geuießenden Mitschöpfeus, wenner die großen Grnndzüge aller Entwickelung auch in den höchstenLeistungen des Menschengeschlechts bestätigt fand.

Hier vor allem liegt Scherers fruchtbare Größe. Die Idee vonder innern Gleichartigkeit aller Menschen, ja von der innern Ver-wandtschaft aller Wesen teilte er mit Herder, mit Goethe, mitDarwin ; sie erfüllte den sonst Ungläubigen mit frommer Ver-ehrung vor den großen Gesetzen, die alles regeln, die uns schenken,was wir begehren: das Gefühl der Ordnung, die Empfindung derSchönheit, die Ahnung der Ewigkeit. Auch nicht an die kleinsteEinzelfrage trat er heran, ohne sich im stillen bewußt zu bleiben,daß Wissenschaft, so verstanden, Gottesdienst sei.

Und dies fromme Gefühl von der innern Einheit trug ervor allem auch in die Betrachtung der neueren Litteraturgeschichte.Ihm wurden die Perioden der deutschen Litteratur eine Reihe vonBrüdern und Schwestern mit unverkennbarer Familienähnlichkeit;Perioden der Weichheit und der Härte, der Humanität und derIntoleranz, der Formstrenge und Formlosigkeit kehren ihm regelmäßigwieder; nie aber schwinden gewisse feste Linien der Physiognomie.Wie in der Sprache so in der Litteratur hatte man bis dahin dieneuere Zeit einfach alsVerfall" angesehen, jeder tieferen Analyseunwert. Scherer wußte es besser, daß es schon schlimmere Periodengegeben hat als die neueste, und daß auf jedenVerfall" neuesAussteigen folgte. Deshalb studierte er die Technik Spielhagcusoder den Stil Gottfried Kellers so eifrig, wie er die Kunst derMinnesänger analysierte; deshalb feierte er Geibel sogar mehr, alswir heut billigen können, nnd freute sich junger Talente. SeineSchüler lenkte er gern auf das Studium ueuerer Dichter; fürGrillparzer, Otto Ludwig, Gottfried Keller trat er unermüdlich ein.Gegen die jüngste Richtuug allerdings, etwa von Zola ab, ver-schloß er sich; neben dem Formlosen störte ihn besonders das Pe-dantische, Doktrinäre so sehr, daß er die lebensvollen Keime neuerGröße hier übersah.

Oberflächlichkeit und böser Wille haben es fertig gebracht, diesenManu, der sich über nichts so sehr freuen konnte als über einneues Talent, für einenGoethepsafsen" auszugeben, weil seineLitteraturgeschichte mit Goethes Tod schließt! Künstlerische undwissenschaftliche Gesichtspunkte bestimmten ihn zu diesem Abschluß;

Meyer, Litteratur, 44