Print 
Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Place and Date of Creation
Page
716
Turn right 90°Turn left 90°
  
  
  
  
  
 
Download single image
 
  

716 18701880.

mehr durch die dumpfe Krankenstubenluft als durch eigentliche An-steckung inficiert. Er hat sich von der Krankheit nie ganz erholt,zumal er sich die Zeit nicht nahm, sich völlig auszukurieren. Zufeurig verlangten tausend neue Gedanken, Werke, Weltanschauungenin ihm zu entstehen. Eine ungeheure Arbeitskraft erschöpfte sichdoch au dieser Last der Vorarbeiten, Entwürfe, Ausarbeitungen.Endlich sprang sein erstes Werk nicht rein philologischer Natnrhervor:Die Geburt der Tragödie" (1872), die geniale Ouver-türe eiues wuuderbaren Lebenswerkes.

Der Grundgedanke des tiefsinnigen Buches wuchs mit Psycho-logischer Notwendigkeit aus seiuer Seele. Nietzsche ist ein leiden-schaftlicher Forscher, eine faustische Natnr; aber er ist gleichzeitigeine nach Schönheit dürstende Seele. Der schönheitstrunkene Be-wunderer der Griechen betet den Apollo an, den Gott der Schön-heit. Aber der faustische Grübler hält mit Schopenhauer dieseSchönheit selbst nur für einen schönen Trug. Uud dieselbe Geistes-kraft, dieapollinisch" an dem Traumbild des schönen Scheins sicherfreut, strömt stürmisch über, um die Wahrheit selbst zu erfassen,berauscht sichdionysisch" an der eigenen Kraft und an der asketisch-grausamen Vernichtung der Trugbilder. Apollinische Kunst be-wundert er in der reifen Tragödie der Alten; dionysische Kunstsoll in Wagners Musik ihm das Weltgeheimnis offenbaren.

Hier ist doch seine stärkere Sehnsucht. Gemäßigt stannt erdie apollinische Knnst des Sophokles an; aber einen Dithyrambusstimmt er au, um das Glück der dionysischen Eingeweihten undihres modernen Hohepriesters Wagner , des typischen Genies, zupreisen. Nur von hier kaun ihm eineWiedergeburt der Kuust"kommen: apollinische und dionysische Kunst müssen sich wieder, wiebei der Geburt der antiken Tragödie, vereinigen. Nur so ist eineWiedergeburt der Kultur möglich; denn die alte Kultur hatdertheoretische Meusch" vernichtet. Was ist dem die Schönheit? wasist ihm der Rausch, in dem der Mensch über seine Grenzen Hinaus-slicht und sich auflöst in das All, wie der junge Goethe, wie Höl-derlin nnd Novalis es ersehnten? Der theoretische Mensch willvor allem seine Vernunft beisammen halten und überall in deuGrenzen bleiben.

So ward Nietzsche zum Kämpfer gegen seine Zeit.

Man begreift, daß das Buch Richard Wagner entzückte; undman begreift, daß es andern eine Thorheit und ein Ärgernis ward!