„Die Geburt der Tragödie"
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Noch tobte der Kampf um Wagner; wie mußte ein Buch reizen,das ihn als den Gipfel aller Kunstentwicklung der Neuzeit, ja alsden Propheten einer neuen Kultur verkündete! Wie mußte fernerin einer Epoche, in der die Wissenschaft allverehrt auf dem Thronsaß, der Angriff auf den „theoretischen Menschen" empören! Vonhier ging denn auch die erste Polemik aus: aus Gelehrtenkreisen,Es war ein Mann, der Nietzsche in vieler Hinsicht verwandt war,der das Schwert zuerst erhob: Ulrich v. Wilamowitz-Möllen-dorff (geb. 1848) — wie sein Pfortenser Mitschüler Nietzsche einMann von erstaunlicher Großartigkeit der künstlerischen und wissen-schaftlichen Interessen, wie er ein Meister der Form in Darstellungund Polemik, wie er vor allem eine Persönlichkeit von ausgesprocheneraristokratischer Eigenart und ein feuriges Temperament, das Phi-lologie nicht „treibt", sondern lebt. Demnach war es nur natürlich,daß der große Philologe, damals noch ein erstaunlich frühgereifterjuuger Doktor, wie Nietzsche ein unnatürlich junger Professor, sichzum Kampf gegen die „Geburt der Tragödie" gedrängt fühlte.Persönliche Gegensätze mochten mitspielen — entscheidend sind doch beisolchen Naturen nur die prinzipiellen Gegensätze. Jn Wilamowitz undNietzsche bekämpften sich der erneute Klassicismus und die wieder-geborene Romantik. Ein Kampf zweier Weltanschauungen lag indieser Kritik wie in Lessings Urteil über Goethes „Werther", wie inGoethes Urteil über Kleists Dramen. „Hier gähnt eine Kluft",rief Wilamowitz selbst, „die nicht zu überbrücken ist. Mir ist diehöchste Idee die gesetzmäßige lebens- und vernunftvolle Entwicklungder Welt . . . und hier sah ich die Entwicklung der Jahrtausendegeleugnet". Das ist es. Was kennzeichnet den Klassicismus tiefer,als der Glaube an die „lebens- und vernnnftvolle Entwicklung derWelt" zu höchstens nur einmal erreichbaren Gestaltungen? Wasist der Romantik entschiedener eigen als der Glaube an die ewigeGleichheit der Natur und der Menschenseele, an die Übereinstimmungvon Kunst- und Volkspoesie, an die innere Einheit aller Mythen,Lehren, Offenbarungen? Es ändert nichts, daß die Klassizität dies-mal in einem leidenschaftlich bewegten Stil fast formlos schreibt,wie die Polemiker der Romantik, der neuromantische Prophet aberin klar und fest geformten Abschnitten, schön gebauten Sätzen, wiedie Didaktik der klassischen Zeit. Um was es sich wirklich handelte,das hat so deutlich wie Wilamowitz Nietzsches Freund und Ver-teidiger, der große Philolog Erwin Rohde (1845—1897) an der