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zwischen Nietzsches Interessen und den eigenen eine Kluft aufthat;nur als Werkzeug war er ihm willkommen gewesen. Die „Un-zeitgemäßen Betrachtungen" (1873—1876) hatten den Autorder „Geburt der Tragödie" von Richard Wagner entfernt;„Menschliches Allzumenschliches" (1878—1879) vernichteteihren Zusammenhang. Nietzsche war seinerseits unglücklich überWagners letzte Entwicklung:
Richard Wagner , scheinbar der siegreichste, in Wahrheit ein morsch ge-wordener, verzweifelter cI6oac1erir, sank plötzlich, hilflos und zerbrochen, vordem christlichen Kreuze nieder. — Hat denn kein Deutscher für dies schauer-liche Schauspiel damals Augen im Kopfe, Mitgefühl in seinem Gewissengehabt? War ich der Einzige, der an ihm — litt? — Als ich allein weiterging, zitterte ich; nicht lange darauf war ich krank, mehr als krank, nämlichmüde — müde aus der unaufhaltsamen Enttänschuug über Alles, was unsmodernen Menschen zur Begeisterung übrig blieb, über die allerorts ver-geudete Kraft, Arbeit, Hoffnung, Jngcnd, Liebe, müde aus Ekel vor derganzen idealistischen Lügnerei und Großen-Verweichlichung, die hier wiedereinmal den Sieg über einen der Tapfersten davongetragen hatte, müdeendlich, und nicht am wenigsten, aus dem Gran? eines unerbittlichen Arg-wohns — daß ich nunmehr verurteilt sei, tiefer zu mißtrauen, tiefer alleinzu sein als je vorher. Denn ich hatte niemanden gehabt als RichardWagner . »
Ostern 1879 kam es zu einer furchtbaren Krisis. Er mußteseine Professur niederlegen; er „kam auf den niedrigsten Punktseiner Vitalität — er lebte noch, doch ohne drei Schritt weit vorsich zu sehen". Erst ein längerer Aufenthalt im Engadin gab ihndem Leben wieder. Dem Leben — das von nun an nur noch einLeben in Gedanken war. Auf alles Glück hatte der immer An-spruchslose verzichtet, seit der erste Band des „Menschlichen All-zumeuschlichen" ihn Wagners Freundschaft, ja jede Schonung vonSeiten der Umgebung Wagners gekostet hatte. Er las, er ging undpflückte in einsamen Spaziergängen die Früchte seiner nie rastendcuGedankenarbeit; dann schrieb er die Aphorismen nieder und ließsie von treuen Freunden zum Drucke besorgen. So entstand diegroße Reihe der eigentlich reformatorischen nach den mehr kritischeuSchriften: „Morgenröte" (1881), „Die fröhliche Wissen-schaft " (1882), „Also sprach Zarathustra (I—III 1883, IVerst 1891 erschienen); „Jenseits von Gut und Böse " (1886),„Zur Genealogie der Moral " (1887). Mit dem letzten Buchkehrte er wieder wesentlich in die polemische Tendenz zurück, diedann wieder eine ganze Reihe vertritt: „Der Fall Wagner"