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1870—1880.
(1888), „Götzendämmerung " (1889), „Nietzsche oonti-g,Wagner", „Der Antichrist" — beide erst nach der Erkrankungerschienen. Das große positive Hauptwerk, dem der „Antichrist"als polemischer Vorposten nur die Bahn brechen sollte, ward nichtvollendet. Denn plötzlich brach die geistige Erkrankung über denEinsamen herein. Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.Keine erbliche Belastung liegt vor; denn erst spät, aus äußeremAnlaß, ist der Vater Nietzsches geistig erkrankt; sondern der nur zunatürliche Zusammenbruch eines Geistes, „der seit Jahrzehnten nuriu höchster Arbeit, äußerster Anspannung lebte, eines Körpers, dessenNerven und Sinne zu lange nur immer der geistigen Anstrengunghatten dienen müssen". Eine ungeheure Bewältigung von philo-sophischer, historischer, schönwissenschaftlicher Litteratur aller Zeitenund Völker, ein unaufhörliches Verdrängen von Gedanken, Zweifeln,Vermutungen, unablässige Sorgfalt für die Form, mehr noch derzahllosen Aphorismen als der beständig daneben aufsprießendenGedichte und Sprüche (gesammelt erschienen 1898) — welcher Geisthätte das dauernd ertragen können? Unter geringerer Last brachenHölderlin und Swift zusammen.
Das tragische Schicksal milderte treueste Liebe der Seinen. DieMntter, vor allem die Schwester, seine treueste Freundin und dereifrigste seiner Jünger zugleich, haben für den auch in der Geistes-schwäche milden, freundlichen, reinlich und nett sich haltenden Krankengeleistet, was Liebe nur vermag. Auf der Veranda des Hauses inWeimar, das das „Nietzsche-Archiv " birgt mit seinen Manuskript-schätzen und seiner Bibliothek, sitzt der großgewachsene Mann mitdem starken Schnurrbart und den buschigen Augenbrauen, dessenGesichtsschnitt etwas von dem polnischen Ursprung seiner Vorsahrenzeigt, und blickt lächelnd in die Sonne. Unten aber im Archiv sorgttreue Arbeit dafür, daß sein Werk so sorgsam, so vollständig, soklar erläutert in die Welt zieht, wie noch kein Philosoph das er-reicht (Gesamtausgabe unter Leitung von Elisabeth Förster-Nietzsche seit 189S).
Der mächtige Siegeszug seiuer Ideen begann erst kurz vorder Erkrankung. Zuerst empfing sie, wie üblich, Wut und Hohn.Die Schrift gegen D. Fr. Strauß („Unzeitgemäße Betrachtungen"I, 1873) erregte einen unbeschreiblichen Lärm; die „Grenzboten"riefen „Polizei, Behörden, Kollegen" gegen den Frevler an derdeutschen Kultur an, und forderten, daß er an jeder deutschen